Ich. Darf. Nicht. Schlafen.
normalerweise ein neurologisches Problem. Strukturell oder chemisch, sagte er. Vielleicht auch eine hormonelle Störung. Das Phänomen ist wohl sehr selten, und ich scheine ein besonders schwerer Fall zu sein. Als ich fragte, wie schwer, antwortete er, dass ich mich an manchen Tagen an kaum etwas erinnern könne, das über meine frühe Kindheit hinausgeht. Ich dachte an heute Morgen zurück, als ich mit keinerlei Erinnerungen an mein Erwachsenenleben aufgewacht war.
»An manchen Tagen?«, sagte ich. Er antwortete nicht, und sein Schweigen verriet mir, was er in Wirklichkeit meinte:
An den meisten Tagen.
Es gebe Behandlungsmöglichkeiten für anhaltende Amnesie, sagte er – Medikamente, Hypnose –, aber die meisten seien bei mir bereits ausprobiert worden. »Sie sind jedoch in der einzigartigen Lage, sich selbst helfen zu können, Christine«, sagte er, und als ich nachfragte, sagte er, weil ich mich von den meisten Amnesiekranken unterschiede. »Ihre Symptome deuten nicht darauf hin, dass Ihre Erinnerungen unwiederbringlich verloren sind«, sagte er. »Sie können sich stundenlang an Ereignisse erinnern. Bis zu dem Moment, an dem Sie einschlafen. Sie können sogar kurz einnicken und sich beim Aufwachen weiter an Dinge erinnern, vorausgesetzt, Sie waren nicht im Tiefschlaf. Das ist höchst ungewöhnlich. Die meisten Amnesiekranken verlieren ihre neuen Erinnerungen alle paar Sekunden …«
»Und?«, sagte ich. Er schob ein braunes Notizbuch über den Tisch zu mir herüber.
»Ich denke, es könnte etwas bringen, wenn Sie Ihre Therapie dokumentieren, Ihre Gefühle, sämtliche Eindrücke oder Erinnerungen, die Ihnen einfallen. Hier drin.«
Ich streckte die Hand aus und nahm das Buch. Die Seiten waren leer.
Das soll meine Behandlung sein?
, dachte ich.
Tagebuch führen? Ich möchte mich an Dinge erinnern, sie nicht einfach bloß aufschreiben.
Er schien meine Enttäuschung zu spüren. »Ich erhoffe mir außerdem, dass beim Niederschreiben Ihrer Erinnerungen möglicherweise neue ausgelöst werden«, sagte er. »Die Wirkung könnte kumulativ sein.«
Ich schwieg einen Moment. Aber welche Wahl hatte ich denn? Tagebuch schreiben oder so bleiben, wie ich bin, für immer.
»Okay«, sagte ich. »Ich mach es.«
»Gut«, sagte er. »Ich habe meine Telefonnummern vorne ins Buch geschrieben. Rufen Sie mich an, wenn Sie verwirrt sind.«
Ich sagte, das würde ich tun. Eine lange Pause trat ein, dann sagte er: »In letzter Zeit haben wir uns intensiv mit Ihrer frühen Kindheit beschäftigt. Wir haben uns Fotos angesehen. So was in der Art.« Ich sagte nichts, und er nahm ein Foto aus der Akte vor ihm. »Heute möchte ich Sie bitten, sich das hier anzuschauen«, sagte er. »Erkennen Sie das?«
Auf dem Foto war ein Haus zu sehen. Zuerst kam es mir völlig fremd vor, doch dann sah ich die abgetretene Stufe vor der Haustür, und plötzlich wusste ich es. Es war das Haus, in dem ich aufgewachsen war, das Haus, in dem ich heute Morgen aufzuwachen meinte. Es hatte anders ausgesehen, irgendwie weniger real, aber es war unverkennbar. Ich schluckte trocken. »Da hab ich als Kind gewohnt«, sagte ich.
Er nickte und sagte, dass die meisten meiner frühen Erinnerungen unbeeinträchtigt seien. Er bat mich, das Innere des Hauses zu beschreiben.
Ich sagte ihm, woran ich mich erinnerte: dass man durch die Haustür direkt ins Wohnzimmer trat, dass es hinten ein kleines Esszimmer gab, dass Besucher gebeten wurden, den kleinen Weg zwischen unserem Haus und dem der Nachbarn zu benutzen, um direkt von hinten in die Küche zu gelangen.
»Und weiter?«, fragte er. »Was war oben?«
»Zwei Schlafzimmer«, sagte ich. »Eines nach vorne, eines nach hinten. Von der Küche unten kam man zum Badezimmer und zur Toilette ganz hinten im Haus. Die waren in einem Nebengebäude untergebracht gewesen, bis es mit zwei gemauerten Wänden und einem Welldach mit dem übrigen Haus verbunden wurde.«
»Weiter?«
Ich wusste nicht, worauf er hinauswollte. »Ich weiß nicht genau …«, sagte ich.
Er fragte mich, ob ich mich an irgendwelche Kleinigkeiten erinnerte.
Da fiel mir etwas ein. »Meine Mutter hatte in der Vorratskammer einen Topf mit der Aufschrift
Zucker
«, sagte ich. »Da hat sie immer Geld drin aufbewahrt. Sie hat ihn auf dem obersten Regal versteckt. Da oben standen auch Gläser mit Marmelade. Die machte sie selbst. Wir haben oft Beeren gesammelt, in einem Wald, zu dem wir extra hingefahren sind. Ich weiß nicht mehr, wo. Wir drei sind tief in
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