Ich. Darf. Nicht. Schlafen.
könnte, ich kann mich nicht konzentrieren. Ich koche vor stummer Wut. Die sind schuld.
Wo sind sie? Was machen sie? Wieso haben sie mich nicht mitgenommen?
Ich knülle das Blatt zusammen und werfe es weg.
Das Bild verschwand, doch sofort trat ein anderes an seine Stelle. Stärker. Realer. Mein Vater fährt uns nach Hause. Ich sitze hinten im Auto, starre auf einen Punkt an der Windschutzscheibe. Eine tote Fliege. Ein Schmutzspritzer. Ich weiß es nicht. Ich spreche, ohne zu wissen, was ich sagen werde.
»Wann wolltet ihr es mir sagen?«
Keine Antwort.
»Mum?«
»Christine«, sagt meine Mutter. »Nicht.«
»Dad? Wann wolltet ihr es mir sagen?« Stille. »Wirst du sterben?«, frage ich, den Blick weiter starr auf den Fleck an der Scheibe gerichtet.»Daddy? Wirst du sterben?«
Er blickt über die Schulter und lächelt mir zu. »Natürlich nicht, Engelchen. Erst wenn ich ein ganz alter Mann bin. Mit einer ganzen Schar Enkelkinder!«
Ich weiß, dass er lügt.
»Wir werden kämpfen«, sagt er. »Versprochen.«
Ein Aufkeuchen. Ich öffnete die Augen. Die Vision war zu Ende, verschwunden. Ich saß in einem Schlafzimmer, dem Schlafzimmer, in dem ich heute Morgen aufgewacht war, doch einen Moment lang sah es anders aus. Flächig. Farblos. Ohne jede Energie, als würde ich ein Foto betrachten, das in der Sonne verblasst war. Es war, als hätte die Strahlkraft meiner Vergangenheit der Gegenwart alles Leben ausgesaugt.
Ich schaute nach unten, auf das Buch in meiner Hand. Der Stift war mir aus den Fingern geglitten und hatte auf dem Weg nach unten eine dünne blaue Linie auf dem Blatt hinterlassen. Das Herz raste mir in der Brust. Ich hatte mich an etwas erinnert. Etwas Großes, Wichtiges. Ich war nicht hoffnungslos. Ich hob den Stift vom Boden auf und begann, das hier zu schreiben.
Ich werde hier aufhören. Wenn ich die Augen schließe und versuche, das Bild zurückzuholen, gelingt es mir. Ich. Meine Eltern. Heimfahrt. Es ist noch da. Weniger lebendig, wie mit der Zeit verblasst, aber noch da. Trotzdem bin ich froh, dass ich es aufgeschrieben habe. Ich weiß, dass es letztendlich verschwinden wird. Zumindest geht es nun nicht gänzlich verloren.
Anscheinend hat Ben seine Zeitung ausgelesen. Er hat nach oben gerufen, ob ich fertig sei für den Spaziergang. Ich habe gesagt, ja. Ich werde dieses Buch im Kleiderschrank verstecken, mir eine Jacke und Stiefel anziehen. Später werde ich mehr schreiben. Falls ich dran denke.
***
Das habe ich vor Stunden geschrieben. Wir waren den ganzen Nachmittag draußen, sind aber jetzt wieder zu Hause. Ben ist in der Küche, brät Fisch fürs Abendessen. Er hat das Radio eingeschaltet, und Jazzklänge treiben herauf in das Schlafzimmer, in dem ich sitze und das hier schreibe. Ich habe nicht angeboten, das Essen zu machen – ich brannte zu sehr darauf, nach oben zu laufen und zu notieren, was ich heute Nachmittag gesehen habe –, aber das schien ihn nicht zu stören.
»Ruh dich aus«, sagte er. »In einer Dreiviertelstunde können wir essen.« Ich nickte. »Ich ruf dich dann.«
Ich schaue auf die Uhr. Wenn ich schnell schreibe, müsste die Zeit ausreichen.
Wir gingen kurz vor eins aus dem Haus. Wir fuhren ein kurzes Stück mit dem Auto und stellten den Wagen neben einem niedrigen, gedrungenen Gebäude ab. Es sah verlassen aus. In jedem einzelnen der zugenagelten Fenster saß eine graue Taube. Die Tür war mit Wellblech abgedeckt. »Das ist das Freibad«, sagte Ben, als er aus dem Wagen stieg. »Ist im Sommer geöffnet, glaube ich. Gehen wir von hier aus zu Fuß?«
Ein betonierter Pfad wand sich den Hügel hinauf. Wir gingen schweigend, hörten nur das gelegentliche Krächzen der Krähen, die auf dem menschenleeren Fußballplatz hockten, oder in der Ferne ein klagendes Hundebellen, Kinderstimmen, das Rauschen der Stadt. Ich dachte an meinen Vater, an seinen Tod und daran, dass ich mich an ein wenig davon erinnert hatte, immerhin. Eine einsame Joggerin trabte auf einer Laufbahn rings um den Sportplatz vor sich hin, und ich beobachtete sie eine Weile, ehe unser Weg hinter einer hohen Hecke entlangführte und wir uns der Hügelkuppe näherten. Dort war mehr los. Ein kleiner Junge ließ einen Drachen steigen, während sein Vater hinter ihm stand, eine junge Frau führte ein Hündchen an einer langen Leine spazieren.
»Das hier ist der Parliament Hill«, sagte Ben. »Wir kommen oft her.«
Ich sagte nichts. Unter der tiefen Wolkendecke lag die Stadt vor uns ausgebreitet.
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