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Ich. Darf. Nicht. Schlafen.

Ich. Darf. Nicht. Schlafen.

Titel: Ich. Darf. Nicht. Schlafen. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S. J. Watson
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hinein. Es müsste ein Tagebuch drin sein.«
    Ich warf einen Blick auf den Schrank in der Zimmerecke.
    »Woher wissen Sie das alles?«
    »Sie haben es mir erzählt«, sagte er. »Wir haben uns gestern getroffen. Wir haben beschlossen, dass Sie Tagebuch führen. Und Sie haben gesagt, Sie würden es dort verstecken.«
    Ich glaube Ihnen nicht
, wollte ich sagen, aber das kam mir unhöflich vor und entsprach auch nicht ganz der Wahrheit.
    »Schauen Sie nach?«, fragte er. Ich sagte, ja, das würde ich, und dann fügte er hinzu: »Tun Sie’s sofort. Sagen Sie Ben nichts. Tun Sie’s sofort.«
    Ich legte nicht auf, sondern ging hinüber zum Schrank und öffnete ihn. Er hatte recht. Ganz unten stand ein Schuhkarton – ein blauer Karton mit dem Wort
SCHOLL
auf dem schlecht schließenden Deckel –, und darin lag ein Buch, eingewickelt in Seidenpapier.
    »Haben Sie’s?«, fragte Dr. Nash.
    Ich nahm es und packte es aus. Es hatte einen braunen Ledereinband und sah teuer aus.
    »Christine?«
    »Ja. Ich hab’s.«
    »Gut. Haben Sie etwas reingeschrieben?«
    Ich schlug die erste Seite auf. Ich sah, dass ich etwas geschrieben hatte.
Ich heiße Christine Lucas,
stand da.
Ich bin siebenundvierzig. Ich habe Amnesie
. Ich war nervös, aufgeregt. Ich kam mir vor, als würde ich jemandem nachspionieren, mir selbst.
    »Ja, hab ich«, sagte ich.
    »Ausgezeichnet!«, sagte er, und dann sagte er, er würde mich morgen wieder anrufen, und wir legten auf.
    Ich rührte mich nicht. Dort, in der Hocke auf dem Boden vor dem offenen Kleiderschrank, das Bett noch ungemacht, begann ich zu lesen.
     
    Zuerst war ich enttäuscht. Ich erinnerte mich an nichts von dem, was ich geschrieben hatte. Nicht an Dr. Nash, nicht an die Praxis, in die er mich angeblich mitgenommen hatte, nicht an die Aufgaben, die er mir angeblich stellte. Obwohl ich gerade noch seine Stimme gehört hatte, konnte ich ihn mir nicht vorstellen, oder mich bei ihm. Das Buch las sich wie etwas Erfundenes. Doch dann fand ich ziemlich weit hinten zwischen zwei Seiten geschoben ein Foto. Das Haus, in dem ich aufgewachsen war, das Haus, in dem ich heute Morgen erwartet hatte aufzuwachen. Es war real, das war mein Beweis. Ich hatte mich mit Dr. Nash getroffen, und er hatte mir dieses Foto gegeben, dieses Fragment meiner Vergangenheit.
    Ich schloss die Augen. Gestern hatte ich mein Elternhaus beschrieben. Den Zuckertopf in der Vorratskammer, Beeren sammeln im Wald. Waren diese Erinnerungen noch da? Konnte ich weitere wachrufen? Ich dachte an meine Mutter, meinen Vater, wollte noch mehr herbeizwingen. Bilder formten sich lautlos. Ein mattorangefarbener Teppich, eine olivgrüne Vase. Ein rauer Teppich. Ein gelber Strampelanzug mit einer rosa Ente auf der Brust aufgenäht und Druckknöpfen in der Mitte. Ein marineblauer Plastikkindersitz und ein blassrosa Töpfchen. Farben und Formen, aber nichts, das ein Leben beschreiben konnte. Nichts.
Ich will meine Eltern sehen
, dachte ich, und irgendwie begriff ich in diesem Moment zum ersten Mal, dass sie tot waren.
    Ich seufzte und setzte mich auf die Kante des ungemachten Bettes. Ein Stift steckte zwischen den Seiten des Tagebuchs, und ich nahm ihn fast ohne nachzudenken heraus, wollte mehr schreiben. Ich hielt ihn über der Seite und schloss die Augen, um mich zu konzentrieren.
    Und da geschah es. Ob diese Erkenntnis – dass meine Eltern tot sind – andere auslöste, keine Ahnung, aber ich hatte das Gefühl, als würde mein Verstand aus einem langen tiefen Schlaf erwachen. Er wurde wieder lebendig. Aber nicht allmählich; es geschah mit einem Ruck. Wie ein Stromstoß. Plötzlich saß ich nicht mehr in einem Schlafzimmer mit einer leeren Seite vor mir, sondern irgendwo anders. Ich war zurück in der Vergangenheit – einer Vergangenheit, die ich verloren geglaubt hatte –, und ich konnte alles berühren und fühlen und schmecken. Ich begriff, dass ich mich erinnerte.
    Ich sah mich selbst nach Hause kommen, in das Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Ich bin dreizehn oder vierzehn, kann es kaum erwarten, an der Geschichte, die ich angefangen habe, weiterzuschreiben, finde aber einen Zettel auf dem Küchentisch.
Mussten schnell weg
, steht da.
Onkel Ted holt dich um sechs ab
. Ich hole mir was zu trinken, mache mir ein Sandwich und setze mich mit meinem Schulheft hin. Mrs Royce hat gesagt, meine Geschichten seien
kraftvoll
und
bewegend
; sie denkt, ich könnte daraus einen Beruf machen. Aber mir fällt nichts ein, was ich schreiben

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