Ich darf nicht vergessen
darin einen Ausdruck von Integrität. Sie selbst fand beide Einschätzungen in Ordnung. Beides lieà sich auf ihren Beruf zurückführen. Die Chirurgie verlangt Präzision und Objektivität.
Man wird nicht gefühlsduselig wegen einer Hand. Eine Hand ist eine Ansammlung von Fakten. Acht Handwurzelknochen, fünf Mittelhandknochen und vierzehn Fingerglieder. Die Beuge- und Streckmuskeln, die für die Bewegung der Finger zuständig sind. Die Unterarmmuskeln. Der opponierbare Daumen. Alles miteinander verknüpft. Komplizierte Querverbindungen. Alle notwendig, um die Bewegungen zu ermöglichen, die den Menschen von anderen Spezies unterscheiden.
Aber Amanda. Sie denkt an Amandas Mittelhandknochen und viermal drei Fingerglieder, die fehlen. Ein verstümmelter Seestern. Weint sie? Nein. Sie schreibt es in ihr Notizheft. Amanda ist gestorben. Ohne Finger. Aber die Einzelheiten sind ihr entfallen.
Ich höre auf zu schreiben, lege den Stift ab. Ich frage Magdalena: Welche Nachbarin wird verdächtigt, Amanda getötet zu haben? Doch sie antwortet mir nicht. Vielleicht, weil ich die Frage schon zu oft gestellt habe und sie sie schon zu oft beantwortet hat. Vielleicht, weil sie weiÃ, dass ich meine Frage wieder vergessen werde, wenn sie sie einfach ignoriert.
Aber ich vergesse selten, dass eine Frage gestellt wurde. Wenn Magdalena mich ignoriert, steht etwas Unbearbeitetes zwischen uns. Es bringt unseren Tagesablauf durcheinander, liegt in der Luft, wenn wir unseren Tee trinken. In diesem Fall ist es wie Luftverschmutzung. Denn irgendetwas stimmt ganz und gar nicht.
W ieder mein Notizheft. Fionas Schrift:
Als ich heute kam, warst du ungewöhnlich bedrückt. Wir erleben dich oft wütend. Verwirrt. Und ich kann mich nur immer wieder wundern, auf welch intelligente Weise du dein Schicksal akzeptierst. Aber so still und resigniert erlebe ich dich selten.
Du saÃt in dich zusammengesunken am Tisch, den Kopf auf der Brust, die Arme hingen schlaff herunter. Ich habe mich vor dich hingehockt und dich in die Arme genommen, aber du hast überhaupt nicht reagiert. Hast keine Frage beantwortet oder irgendwie zu verstehen gegeben, dass du meine Anwesenheit wahrnahmst.
Irgendwann hast du dich aufgerichtet, dich mit dem Stuhl vom Tisch weggeschoben und bist langsam nach oben und ins Bett gegangen. Ich habe mich nicht getraut, dir zu folgen. Habe es nicht gewagt, weitere Fragen zu stellen, aus Angst vor dem, was du über den dunklen Ort preisgeben könntest, an den du dich zurückgezogen hattest.
Es war das erste Mal, dass ich solche Angst hatte. Ich war mir nicht immer sicher, was in dir vorgeht, aber bisher konnte ich immer fragen, und manchmal hast du meine Fragen sogar beantwortet. Wenn die Wahrheit schmerzte, hast du sie erträglich gemacht mit deiner ruhigen Art, sie zu akzeptieren.
Du magst mich nicht besonders, nicht wahr?, habe ich dich einmal gefragt, als ich fünfzehn war. Nein, hast du geantwortet, und du magst mich im Moment auch nicht besonders. Aber wir werden wieder zueinanderfinden. Und das haben wir. Wenn ich damals gewusst hätte, dass ich dich und Dad innerhalb von zehn Jahren beide verlieren würde, hätte ich mich dann anders verhalten? Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich hätte ich mir noch eine weitere Tätowierung machen lassen.
Diese Tätowierung. Du hast mich immer wieder danach gefragt, Mom, deswegen schreibe ich es jetzt auf. Es ist eine ziemlich gute Geschichte. Ich hatte schon zwei Tätowierungen. Eine, die ich mir mit vierzehn habe machen lassen, als ich mit Eric zusammen war. Davon hast du nie erfahren. Sie ist sehr diskret â auf meiner linken Pobacke. Eine winzige Tinkerbell. Na ja, ich war eben vierzehn.
Dann, mit sechzehn, als ich die jüngste Studienanfängerin in Stanford war, habe ich mir noch eine machen lassen. Diesmal am Knöchel. Ein Cannabisblatt. Also, du kannst dir bestimmt vorstellen, warum ein Mädchen, das eigentlich noch viel zu jung ist, um von zu Hause auszuziehen, so etwas cool findet.
Aber die Klapperschlange? Das war in meinem dritten Studienjahr. In den ersten beiden Jahren ging es mir gut, besser als in der Highschool, ich hatte mich sogar mit ein paar Leuten angefreundet, alles mitgemacht, was man von Jugendlichen in dem Alter erwartet. Habe zu viel getrunken. Bin mit allen möglichen Jungs ins Bett gegangen.
In meinem dritten Studienjahr ist meine kleine Welt dann zerbrochen. Mein bester
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