Ich darf Sie nicht lieben, Miss Jessica
ganzen Welt, die ein Kind erwartet“, murmelte ihr Bruder.
„Werde nicht ungerecht, Nick“, wies Jessica ihn zurecht. „Du darfst nicht vergessen, dass Matts Mutter bei seiner Geburt gestorben ist.“
„Oh Gott, mein Verhalten ist wahrhaft unverzeihlich! Das war mir tatsächlich entfallen. Entschuldige, Jess.“ Nick lächelte reumütig. „So langsam, glaube ich, wirst du richtig menschlich.“
Mit einem Lachen versuchte Jessica ihre Verlegenheit zu überspielen. „Ich strenge mich an“, gab sie dann ruhig zu. „Jedenfalls nach dieser schrecklichen Geschichte mit Wentworth. Ich versuche, mehr wie Imogen zu werden und mich so zu verhalten, wie Matt und sie es für wünschenswert befinden …“ Sie verstummte, und ihr Blick verdüsterte sich, als ihr die Ereignisse des vergangenen Septembers wieder einfielen. Philip Wentworth, der Wildhüter auf dem Familienanwesen, hatte sie entführt und um ein Haar entehrt. Wäre ihr kurz zuvor aus Indien eingetroffener Halbbruder ihr nicht gerade noch rechtzeitig zu Hilfe gekommen … Ein kalter Schauder überlief sie.
Ihr Unbehagen war Nicholas nicht entgangen. Er nahm Jessicas Hand in seine und drückte sie fest.
„Du hast dich wahrhaftig verändert“, versicherte er ihr warmherzig. „Ich habe dich kaum wiedererkannt, als du Weihnachten aus der Schule kamst. Und glaub mir, Matt wäre niemals bereit gewesen, dir deine Saison zu gewähren, wenn du sie nicht verdient hättest.“
„Er ist sehr gut zu uns, nicht wahr?“ Jessica blinzelte die Tränen fort, die ihr in die Augen stiegen. „Damals, als er auftauchte, konnte ich ihn nur hassen, aber nach allem, was er für uns getan hat – als er Thornfield auf Vordermann brachte und dafür sorgte, dass Mama sich in Bath niederlassen konnte –, ist er mir wirklich ans Herz gewachsen. Ich kann verstehen, dass Imogen ihn abgöttisch liebt.“ Sie lächelte. „Es geht mir oft durch den Sinn, dass er genau der Typ Mann ist, den ich irgendwann einmal heiraten möchte.“
„Ich wage zu bezweifeln, dass es viele von seiner Sorte gibt.“ Nicholas lachte leise in sich hinein und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Pferd zu. „Und abgesehen davon hatte ich ohnehin den Eindruck, dass du an einem ganz bestimmten Lieutenant interessiert bist.“
„Harry Stevenage!“ Jessica lachte schallend. „Um Himmels willen, nein, Nick! Er ist nicht einmal annähernd vermögend genug für meine Ansprüche.“ Sie lächelte ihrem Bruder mutwillig zu. „Ich halte Ausschau nach einem Duke, musst du wissen – oder wenigstens nach einem Earl.“
Sie hatte mit entschiedenem Widerspruch auf ihre Bemerkung gerechnet – einer Bemerkung, die, wie sie sehr wohl wusste, von der „alten“ Jessica stammte – und war über die Maßen verwundert, als eine Entgegnung von Nicholas ausblieb. Ihr Bruder schien ihr nicht einmal zugehört zu haben, wie sie nun bemerkte. Stattdessen war seine Aufmerksamkeit ausschließlich auf das dichte Unterholz gerichtet, das den Rand der Straße säumte. Jessica sah sich um und stellte fest, dass ihnen auf dem schmalen Fahrweg, auf dem sie sich befanden, kein einziges Gefährt folgte, vorausfuhr oder entgegenkam.
„Was ist los, Nick?“, fragte sie mit gesenkter Stimme und legte ihrem Bruder die Hand auf den Unterarm. „Stimmt irgendetwas nicht?“
Nicholas zuckte die Achseln. „Keine Ahnung. Ich dachte auf einmal …“
Was immer er noch sagen wollte, erstarb, als plötzlich zwei niederträchtig aussehende Kerle, jeder einen Knüppel schwingend, aus dem Strauchwerk neben der Fahrbahn hervorsprangen. Der eine der beiden griff ins Geschirr und brachte das Pferd zum Stehen, während sein Komplize sich mit drohend erhobener Keule Jessica näherte.
„Her mit deiner Geldbörse, Mädchen, aber schnell“, knurrte er und packte Jessicas Knöchel.
Augenblicklich war Nicholas auf den Füßen. „Nehmen Sie Ihre dreckigen Pfoten von meiner Schwester“, brüllte er außer sich vor Wut und riss die Reitpeitsche aus ihrer Halterung, um sie dem Wegelagerer überzuziehen.
Es bedurfte nicht mehr als eines kurzen Augenblicks, bis Jessica begriff, dass die Handlungsweise ihres Bruders, so ehrenwert sie sein mochte, sie beide in Lebensgefahr brachte. Die Männer, die sie überfallen hatten, waren schäbig gekleidet, und angesichts ihrer provisorischen Bewaffnung lag es nahe, dass sie einzig und allein auf ihre Wertsachen aus waren und verschwinden würden, sobald sie sie ihnen übergab.
Sie versuchte Nicholas an
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