Ich darf Sie nicht lieben, Miss Jessica
wissen. „In diesem Teil der Stadt kenne ich mich bestens aus.“
„Ich hege nicht den geringsten Zweifel daran“, erwiderte er gelassen. „Indes bin ich der Ansicht, dass es sich für mich als Gentleman geziemt, Sie bis zur Haustür zu bringen.“
Wäre Jessica nicht so sehr mit dem Kutschieren beschäftigt gewesen, hätte sie wohl mit dem Fuß aufgestampft, wie sie es von ihren früheren Wutanfällen her gewohnt war. Stattdessen schloss sie ihre Finger fester um die Zügel und ließ sie kurz knallen. Das Pferd schoss vorwärts, und sie versuchte es an den ihnen vorausfahrenden Chaisen vorbei in die nächste Lücke zu steuern, um den Fremden endlich loszuwerden.
Bei der plötzlichen schwankenden Bewegung riss Nicholas erschrocken die Augen auf und stieß einen Warnruf aus. „Um Himmels willen, pass auf, Jessica!“ Im nächsten Moment war der Reiter wieder gleichauf mit dem Gig, ergriff den linken Zügel und lenkte den Braunen mit einigem Kraftaufwand aus dem Weg einer entgegenkommenden Karriole.
„Kein besonders kluges Überholmanöver“, bemerkte er trocken, nachdem das Gefährt zum Stehen gekommen war. „Zumal mit einem so klapprigen Karren.“
Jessica zitterte am ganzen Leib, sie hätte nicht sagen können, ob vor Wut oder wegen des überstandenen Schreckens. Mit einem gefährlichen Funkeln in ihren grünen Augen starrte sie den Fremden an. „Wie können Sie es wagen, Sir! Lassen Sie sofort meinen Zügel los.“
Der Gentleman grinste sie unbeeindruckt an und hob beide Hände, um ihr zu demonstrieren, dass er das längst getan hatte. „Fahren Sie weiter, Mädchen“, sagte er gedehnt, „aber versuchen Sie bitte, geradeaus zu kutschieren, wenn Sie irgend können.“
Mit einem wütenden Knallen der Zügel spornte Jessica das Pferd an, sich in Bewegung zu setzen. „Immer mit der Ruhe, Jess“, murmelte Nicholas neben ihr. „Der Bursche hat uns gerade zum zweiten Mal aus einer ziemlich prekären Situation gerettet, und das ist kein Anlass für dich, aus der Haut zu fahren.“
Jessica schwieg, immer noch kochend vor Wut. Mit starrer Miene und ebenso starrer Haltung lenkte sie das Gig zurück in den Straßenverkehr. Ihr Bruder, der dabei war, sich von dem Seil, das ihn in Position gehalten hatte, zu befreien, warf ihr einen besorgten Blick zu. Ihm waren diese Warnzeichen nur allzu bekannt, und mit angehaltenem Atem wartete er auf den Ausbruch, der unweigerlich kommen musste, zu seinem Erstaunen jedoch ausblieb.
Der Rest der Fahrt verlief in frostigem Schweigen. Als das Gig vor der Eingangstür der eleganten Stadtresidenz in der Dover Street anhielt, kurbelte Jessica die Bremse fest und blieb sitzen, bis ihr Bruder vom Kutschbock geklettert war.
Fast eine Minute verging, in der sie darauf wartete, dass der Fremde endlich absaß und ihr beim Aussteigen behilflich sein würde. Ihr Begleiter indes blieb im Sattel sitzen und schien nicht daran zu denken, sich wie ein Gentleman zu verhalten. In höchstem Verdruss rutschte Jessica schließlich auf die andere Seite der Sitzbank und bat Nicholas, ihr seine Hand zu reichen.
Kaum dass sie auf dem Boden stand, wandte sie sich brüsk zur Treppe. Sie hatte eben die erste Stufe erklommen, als sie den Fremden Nicholas’ Namen rufen hörte.
„Master Beresford!“
Jessica wirbelte herum und sah, wie ihr Begleiter einen prall gefüllten Beutel aus seiner Satteltasche zog und ihn Nicholas zuwarf. „Hier, Junge, fangen Sie!“
Der überraschte Nicholas machte einen vergeblichen Versuch, nach dem fliegenden Gegenstand zu greifen, doch Jessica, die erkannt hatte, dass es sich um ihr Retikül handelte, tat einen flinken Schritt zur Seite, streckte die Hände aus und fing es sauber auf.
„Mein Retikül“, rief sie aus und unterzog den Inhalt des Stofftäschchens einer eiligen Untersuchung. „Aber das ganze Geld ist ja noch da!“
Ein argwöhnischer Ausdruck trat in ihr Gesicht. „Wie sind Sie in den Besitz meines Eigentums gelangt?“, wollte sie wissen.
Der Fremde neigte den Kopf. „Ihr Angreifer ließ den Beutel fallen, als er floh.“
Plötzlich kam Jessica sich sehr töricht vor. Auch wenn der Gentleman ihrer Meinung nach eine unerträgliche Überheblichkeit an den Tag legte, schuldete sie ihm, moralisch gesehen, Dank für seine Hilfe.
„Ich bin Ihnen sehr verbunden, Sir, für das, was Sie für uns getan haben“, stieß sie hervor und warf den Kopf in den Nacken. „Wenn Sie die Güte besäßen, einen Moment zu warten? Sobald mein Bruder die
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