Ich - der Augenzeuge
fürchtete, einen Menschen zu töten, der ihn durch ein Wunder sehend gemacht hatte. Könnte denn nicht ein zweites Wunder ihn wieder blind machen, wenn er mir wie so vielen anderen das Lebenslicht ausbliese?
Paris war schön, himmlisch, wunderbar, sprühte von Leben, das Alte und Ehrwürdige mischte sich zauberhaft mit dem Modernen und Kühnen. Aber war es für mich da, war es für uns da? Es war nicht unsere Sprache, die man dort sprach. Ich kannte sie seit meinen Studentenjahren, vermochte sie aber niemals so perfekt zu erlernen, daß ich sie fehlerfrei sprechen konnte. Nie war es unsereinem möglich, unerkannt bei den vier Millionen hier unterzutauchen. Die deutsche Sprache aber, in der unsereins eben dachte, hoffte, fürchtete, rechnete, sich erinnerte und träumte (war es denn nicht das ganze Leben und alles, was uns blieb?), das war eigentlich die verbotene Sprache, etwas, das uns nicht mehr gehörte und das uns hätte fremd geworden sein müssen. Und war es doch nicht! Meine Frau begriff das nicht. Sie war wieder aufgeblüht in dem Gedanken, die Kinder bei sich zu haben. Sie sang manchmal und lief leichtfüßig die vielen Treppen hinauf, fiel mir um den Hals und küßte mich ab. Nicht wie ihren Mann, eher wie ihr Kind. Ich strich ihr übers Haar und zwang mich, es mit fester Hand zu tun, damit sie nicht sähe, wie es zitterte in mir.
Nachts kam ich mit ihr zusammen. Für sie war es natürlich, mich schauderte es. Ich tat es um ihretwillen und tat doch so, daß sie glauben mußte, sie hätte mir sonst gefehlt, ich hätte mich nach ihr gesehnt usw. Dieses ›usw.‹ schreibe ich, weil ich es so empfinde. Zu diesem ›usw.‹ gehört auch, daß ich mich um einen Verdienst umsah. Ich wußte, es gab verschiedene Komitees, die beträchtliche Summen für die ärmsten Emigranten aussetzten. Ich schickte meine Frau hin, obwohl jetzt ich derjenige war, der mitleidswürdiger aussah als sie, eine gut erhaltene Frau in den besten Jahren.
Ich wollte keine Almosen annehmen, doch mußte ich es. Etwas sträubte sich in mir. Als junger Mensch hatte ich von Kaisers Hilfe gelebt, aber damals konnte ich hoffen, alles abzuzahlen, heute konnte ich es nicht mehr, denn ich erlebte jeden Tag, als wäre es der letzte meines Lebens. Kurz vor der Ankunft meiner Kinder raffte ich mich auf. ›Mach ein Ende‹, sagte ich zu mir, auf einer Bank des schönen, schon etwas herbstlich angehauchten Parks Luxembourg sitzend, vor mir das kleine Bassin, in welchem Kinder ihre Schiffchen schwimmen ließen, ›mach ein Ende, einen Weg dazu wirst du schon finden, deine Frau wird sich mit den Kindern mit Hilfe des Komitees und vielleicht Helmuts durchhelfen, der alte Kaiser wird ihr geben, was er dir verweigert, weil er dich überschätzt. Gut. Wenn du aber doch noch weiterleben willst, bedrücke dich nicht mehr. Vergiß oder krepier! Verzweifeln ist gut. Weiterleben ist auch gut. Aber weiterleben und verzweifeln zusammen ist nicht gut.‹
Schöne Vorsätze. Immerhin tat es mir gut, daß ich mich grob, spartanisch angefahren hatte. Ich bemitleidete mich auf dem Heimweg nicht mehr so sehr und fand den Mut, in der Emigrantenküche mich dem Spott meiner Leidensgenossen auszusetzen und um Arbeit zu betteln, die man mir aus Mitleid – und zu schlechteren Bedingungen als im Frühjahr – gewährte, nämlich nicht mehr gegen ein paar Francs pro Tag, sondern nur gegen freies Essen. Ich sagte daheim nichts. Ich schämte mich vor Viktoria.
Meine Eltern kamen. Mir war jetzt meine Stiefmutter gleich nah und gleich fern wie mein alter, aber ausgezeichnet aussehender Vater, der mich zuerst mit dem ›deutschen Gruß‹ zu begrüßen vorhatte, dann aber den ausgestreckten Arm sinken ließ. Meine Kinder fielen mir um den Hals und rieben sich nachher die Wangen und Lippen, denn meine Wangen waren stachelig. Ich lächelte, ich hatte es als Kind nicht anders getan. Wirklich ergriffen hat mich etwas anderes. Heidi hatte einen ganzen Laib Bauernbrot mitgebracht. Als ich ihn auf den Arm nahm wie ein kleines Kind und ihn befühlte, ging mir die verlassene Heimat auf. Ich legte das Brot schnell weg und stürzte auf die Straße, wo ich heulend, weinend, die Zähne zusammengepreßt, die Hände vor den Augen, in einer abgelegenen kleinen Straße hin und her lief, bis ich mich beruhigt hatte.
Am nächsten Tage zeigte ich den Eltern die Sehenswürdigkeiten, entschuldigte mich zur Essenszeit, ich hätte eine wichtige geschäftliche Unterredung, und ging Tellerwaschen;
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