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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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desgleichen abends. Heidi ließ sich täuschen, mein Vater nicht. Er sagte mir, als ich spätabends heimkam, todmüde, er verstehe mich wohl. Viel sei für mich im Dritten Reich nicht zu tun, aber er werde jeden Monat dreißig Mark ›flüssig machen‹. Jeder Deutsche könne zehn Mark an Verwandte ins Ausland schicken, also er, Heidi und Angelika, es sei nur ein bescheidenes Scherflein. Ich war dankbar, meine Augen blieben aber trocken.
    Meine Frau wollte den Kindern noch nicht sagen, daß sie hierbleiben müßten, sie wollte damit warten, bis die Alten abgereist wären. Ich drängte aber darauf, sie sollten die Wahrheit sofort erfahren. Ich glaubte, zum Lügner muß man geboren sein. Ich hatte selten gelogen und immer Unheil damit angerichtet, auf meiner Lüge lag Gottes Segen nicht. Meine Frau blitzte mich mit blaugrünen Aquamarinaugen etwas unwillig an, dann aber lachte sie und tollte im Zimmer umher, so daß sie nicht nur die Kinder weckte, sondern auch die zartbesaiteten Nachbarn. Am nächsten Morgen nahm ich meinen Sohn beiseite und sagte ihm alles. Er erblaßte. Ich bat ihn, er möge es auf sich nehmen, jetzt seiner Schwester die Sache beizubringen. Dieser ehrende Auftrag erleichterte ihm die Sache. Die Kinder hatten eher mit allem anderen als dem gerechnet. Die Stadt war ihnen nicht schön erschienen, sie zogen hämische Vergleiche, zum Beispiel über den Schmutz auf der Straße oder in der Untergrundbahn, über das Brot, das Wasser, alles, was anders war als daheim, kam ihnen ›komisch‹ vor, und ich sah mit Bitterkeit, wie sehr sie ihre Stadt liebten, meine Heimat, die mir jetzt so fremd geworden war.
     
    Meine Eltern reisten also ab. Sie ließen uns ihre Reiseutensilien, Bürsten, Kämme, Plaids und so fort hier. Sie hatten sehr schnell erfaßt, wie notwendig uns diese Dinge waren. Ganz verständnislos hingegen waren die Kinder. Sie grüßten stets mit dem ›deutschen Gruß‹, der Portier im Hotel zeigte dann ein schiefes, saueres Lächeln, auf der Straße sprachen sie absichtlich sehr laut Deutsch. Meine Frau bemühte sich, ihnen ein paar französische Brocken beizubringen, damit sie Brot oder Milch usw. besorgen könnten. Sie wollten nichts lernen, hielten sich beide Ohren zu und schrien sinnloses Zeug durcheinander.
    Geduld hat meine Frau niemals in besonders hohem Maße besessen. Ich nahm sie beiseite, ließ die Kinder allein, die sich bald beruhigten, ihr sogar Abbitte leisteten und ein paar Brocken aufzuschreiben bereit waren, das Ende des Federhalters mit ihren schönen weißen Zähnen beknabbernd.
    Die Kinder konnten nicht in lateinischen Lettern schreiben, oder taten so, als könnten sie es nicht. Meine Frau ließ einen Tag hingehen oder zwei, am dritten verlor sie die Geduld. Ich hätte mich gern diesen Szenen entzogen, ich beherrschte mich nur mit aller Mühe, aber ich sah, sie war die Schwächere, ich mußte ihr gegen die zwei ungezogenen Gören zur Seite stehen.
    Aber wenn sie nur ungezogen gewesen wären! Sie waren ja nur zu gut erzogen, nämlich in seinem Geiste. Mich hätte der Zorn besinnungslos machen können, als ich sah, daß sein Geist auch in diesen halbjüdischen Kindern war, daß meine Kinder sich zu drei Vierteln als Deutsche und zu einem Viertel als Juden fühlten (vielleicht war das Angelikas Werk, die ihnen diese stupide Rechnung beigebracht hatte aus Rache), daß sie ihren Führer rühmten und seine Lieder sangen, im Takt im Zimmer umhermarschierend, und daß sie das ›deutsche Blut‹ priesen. Aber durfte ich mich dem Zorn hingeben? Jeder durfte es eher als ich. Dann wäre alles verloren gewesen, als Viktoria in ihrer großen Empfindlichkeit in allem, was das Jüdische betraf, in ihrer grenzenlosen Enttäuschung über die Kinder, die sie so verändert wiederbekam, die Nerven verlor und sich auf sie stürzte, um sie zu bestrafen. Nun hat sie immer auch im Zorn eine leichte Hand gehabt. Sie selbst ist niemals geschlagen worden, der Judenkaiser verabscheute Prügel als Erziehungsmethode. Ich glaube, sie hätte den Kindern nicht mit Absicht weh tun mögen. Jetzt aber war es über sie gekommen, mit verzerrtem Gesicht, sprühenden Blicken warf sie sich auf die Kleinen, die statt sich jeder in eine Ecke zu verkriechen oder fortzulaufen, sich aneinanderklammerten und sich zu wehren versuchten, beide ein furchtbares Geschrei ausstoßend. Plötzlich erkannte ich in diesem Schreien meiner Kinder schauernd meine eigene Stimme wieder, wenn ich unter den Ochsenziemern lag. Ich war

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