Ich - der Augenzeuge
waren, weigerte sich, die Luft dieses Knechtslandes zu atmen und auszuwandern.
Deutschland stank nach Mord und Verrat, und alle zogen den Gestank wie Rosenduft ein. Ich kam einige Tage nicht nach Hause. Ich schämte mich vor meiner Frau, daß ich ein Deutscher war und mein Blut nicht gegen ein anderes austauschen konnte. Aber dann schämte ich mich auch dieses Gedankens. Kam es denn aufs Blut an? War denn auch ich H.s Sklave im Geiste geworden? Niemals bin ich so nahe dem Selbstmord gewesen wie damals. Nur der Gedanke, daß ich ihm dann freiwillig unterläge, hielt mich zurück. Nicht der Gedanke an Frau, Vater und Kinder.
Die Listen der bei den Massenmorden Umgekommenen, die in den deutschen Blättern erschienen waren, mußten natürlich ungenau und lückenhaft sein. Ich sah sie durch und fand in ihnen den Namen H. von Kaiser. Ich blieb ruhig. Ich staunte über mich, wie kalt ich blieb. Ich überlegte logisch, daß nur der alte Kaiser, der seit Jahr und Tag in Italien lebte, geadelt war, sein Sohn hatte kein Anrecht aufs ›von‹. Und was konnte ›H.‹ alles bedeuten? Es kam mir sogar der Spott in den Sinn, womit der Vater Helmuts vor Jahren das ›O. Schwarz‹ aufgenommen hatte. Ich wußte wohl, ich verdankte Helmut mein Leben. Aber was war mir Dank? Konnte ich für ein solches Dasein noch danken? Es war leer, kalt und friedloser als die Existenz im Lager und auf der Flucht.
Meine Frau nahm die Nachricht mit großer Erregung auf. Sie weinte, sie raufte sich die Haare, sie schrie so laut, daß ich ihr den Mund zuhalten mußte, denn es war mir nicht lieb, wenn man sich in dem kleinen Hotel über uns wegen nächtlicher Störung beklagte. Sollte ich es für möglich halten, daß sie für Helmut etwas Tieferes empfand, so häßlich und – judenhasserisch er auch war? Auch dieser Gedanke rührte mich nicht auf. Ich hatte als Augenzeuge neben der jammernden, sich in einem knarrenden Lehnstuhl hin und her werfenden Viktoria bemerkt, daß sie – zerrissene Sohlen hatte. Schon in der letzten Zeit hatte sie mehr gespart als sonst. Nun fragte ich sie, schon um sie auf etwas anderes zu bringen, ob wir wirklich in Not seien. ›In Not‹, sagte sie, ›ja, in Not!‹ und fügte hinzu, es ginge nicht um uns zwei alte Menschen, die auf jeden Fall verloren seien, sondern um die Kinder, die seien in Not und wüßten es noch nicht einmal! Sie wollte von neuem zu weinen beginnen, ich ging und schloß leise die Tür hinter mir. Am nächsten Tage bat sie mich, ich möchte ihr verzeihen, ich würde bald alles verstehen. Ich sah sie fragend an. Sie wollte nichts mehr sagen, weder wollte sie lügen, noch konnte sie die ganze Wahrheit sagen. Wir gingen zu zweit zu einem Schuster, setzten uns jeder auf einen Stuhl, zogen unsere sehr schadhaften Schuhe aus (denn die meinen waren nicht besser als die ihren) und warteten geduldig, bis die Reihe an uns kam. Eine Menge anderer armer Leute wartete, die Männer in Socken und die Frauen in grob gestopften, oft gewaschenen Kunstseidenstrümpfen, bis sie die Schuhe repariert wiederbekamen, sie nahmen die Geldbörse aus der Tasche, zählten das französische Geld, sie bewegten die Lippen, und ich sah, sie rechneten in deutscher Sprache das Geld nach, ob es reiche.
Das Warten dauerte für uns beide nicht weniger als drei Stunden. Aber wir Emigranten waren alle an das Warten gewöhnt, und meine Frau sagte mir, als wir auf der Straße standen, sie fühle sich sofort viel mutiger und fester, sobald sie dicke schöne Ledersohlen unter den Füßen habe. Ich glaubte ihr, denn ihr Gang, der schon sehr schleppend geworden war und an den schlürfenden Gang des alten Judenkaisers erinnerte, war wieder federnd und so, wie sie ihn als junges Mädchen gehabt hatte, wenn sie mit dem Schachbrett und den klappernden Figuren die Treppe hinaufgesprungen war, um mit meinem Vater und mit mir Schach zu spielen. Ich strich ihr daheim über das Haar. Sie zuckte zusammen. Ich hatte nur sehr leise wie in Angst über ihr Haar gestrichen. Aber gerade diese übergroße Zartheit schien sie aufzuregen. Wir kamen uns nur sehr langsam wieder näher, und es schien mir ganz unmöglich, daß wir uns wieder so liebten wie am Anfang unserer Ehe oder noch in der letzten Zeit in S.
Zwei Tage später kam Helmut zu uns. Er war verwundet worden, sagte nicht wo und wie und trug den linken Arm in einer von der Reise sehr schmutzigen Binde und sah alt und verfallen aus. Er gab uns beiden etwas befangen die Hand, wir boten ihm den
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