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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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verbrauchten Mann kennen. Er mußte sich Mühe geben, sich meiner Mutter zu erinnern, obwohl sie durch Jahre jeden Sonntag in seine Kirche gekommen war und er ihr die Letzte Ölung gegeben hatte. Der Geistliche notierte sich die ihm bestimmte Summe in ein dickes Buch und bezeichnete im Kalender das Datum der ersten dieser Gedächtnismessen. Er ließ mich nicht gehen, bevor er mir nicht ein Glas Schnaps angeboten hatte, wie ihn die Bauern hier heimlich brannten und das ich am liebsten sofort ausgespien hätte, denn Alkohol, auch in kleinen Mengen, tat mir seit einiger Zeit, seit den Gurkhastürmen wohl, nicht gut.
    Er bemerkte meine Verwirrung, ließ mich nochmals niedersetzen und erging sich in Gesprächen über die Sittenlosigkeit der Bauern oder vielmehr der Bäuerinnen, die mit den stämmigen russischen Gefangenen, die sommers auf den Feldern mit ihnen arbeiteten, im Winter mit ihnen am Herde saßen, in heidnischer Weise zusammenlebten, zahlreiche Kinder zur Welt brachten, von denen nur eins feststand, daß der Vater kein katholischer Christ aus dem Orte war. »Und wie wird es erst jetzt, wo wir keinen König mehr haben und alle Behörden und Gerichte abgeschafft werden sollen?« Jetzt war ich es, der ihn beruhigte, denn ich glaubte, das Chaos würde nur bis zum Friedensschluß dauern, und dieser sei dank der Nachgiebigkeit der deutschen Heeresleitung und der Friedenssehnsucht des Volkes sehr nahe gerückt.
    Er fragte mich nach meinen Erfahrungen und meiner Tätigkeit im Kriege. Ich antwortete nur, ich sei als Arzt im Feld gewesen, von dem Stoßtrupp schwieg ich. Und doch war mir die kurze Zeit als Stoßtruppsoldat tiefer zu Herzen gegangen als die lange der Amputationen, von den geistigen Kriegsruinen in P. ganz zu schweigen. Er meinte, es würde hier in der Gegend ein junger tüchtiger christkatholischer Arzt recht sehr erwünscht sein. Er nahm großen Anteil an seinem Pfarrsprengel, ich sah, ich hatte mich getäuscht, wenn ich ihn für schwachsinnig gehalten hatte. Der frühere Landdoktor, der allgemein beliebt gewesen sei, sei an Flecktyphus 1916 in den Karpaten als Stabsarzt d. R. bei der bayrischen Südarmee zugrunde gegangen, erzählte er, und die jungen Ärzte, die vertretungsweise hier geschafft hätten, seien einer nach dem anderen eingezogen worden, und der letzte sei infolge des flüchtigen Studiums so untüchtig gewesen, daß kürzlich erst eine Holzfällersfrau im Ort Schrangen an einer Geburt gestorben sei. Das Kind, leider ungetauft, sei mit ihr ›abgeschieden‹, während der junge Arzt dabeigesessen sei und sich die Haare gerauft habe. Ob ich nicht Lust hätte, hier mich ansässig zu machen? Ich sagte, ich wolle es überlegen, und kehrte zu meinem Vater und Heidi zurück.
    Die beiden hatten schon in der kurzen Zeit, die seit dem Tode meiner armen Mutter verstrichen war, die Wohnung ganz nach ihrem Geschmack umgemodelt. Manches war hübscher geworden, ich gebe es zu, es waren eben Menschen, die dem Leben und dem Genießen geneigt waren und die nicht mit dem Jenseits rechneten, deshalb wollten sie es hier möglichst gemütlich haben, schonten sich und nahmen nichts ernst außer ihrem Wohlbefinden, sie waren gesund und freuten sich des Lebens. Ich hielt mich von ihnen abseits, das Bild meiner Mutter trat immer mehr vor mein Auge, und nachts geschah etwas, das ich seit meinem ersten Studienjahr nicht mehr gekannt hatte, meine Lippen bewegten sich, ich sprach mit ihr, lange, fast die ganze Nacht hindurch, aber leise, so daß es weder Heidi noch mein Vater im Nebenzimmer hören konnte.
    Ich sank dann in einen sanften Schlaf. Keineswegs sanft war aber mein Traum. Er führte mich mitten hinein in einen Sturmangriff gegen die Gurkhas und verband sich in sinnloser, aber suggestiver Weise mit den Erinnerungen an die Amputationen. Ich wollte diesen Traum vergessen, aber er verließ mich auch am Tage nicht. Auch ich war also noch im Kriege, und es war noch kein Friede da.
    Ich nahm mir vor, einen Kurs in der Gebärklinik von M. zu besuchen, da mir durch die Erzählung des Pfarrers zu Bewußtsein gekommen war, daß ein Landarzt in einer solchen Gebirgsgegend eine große Verantwortung hatte und in der Geburtshilfe gut beschlagen sein mußte, um die Entbindungen auch in einer ärmlichen Holzfällerhütte ohne Licht und ohne viel Hilfsmittel zum glücklichen Ende bringen zu können.
    Die allgemeine Not, statt endlich abzunehmen, wuchs immer mehr. Die Geburten waren freilich leicht. Man brauchte keine

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