Ich - der Augenzeuge
jahrelang in seiner Pflege gewesen war und daß er uns allen hatte helfen wollen. Auch seine Tochter war da, schöner denn je. Mir ging trotz der schweren Zeit ein Schauer des Entzückens durch das Herz, als sie mir die Hand drückte und mich mit ihren großen, klaren, blaugrünen Augen anstrahlte, welche meinen Blick beherrschten. Sie schien aber nicht wie ihr Vater alles vergessen zu haben. Etwas Bitteres, Herrisches war geblieben, und ich hatte wohl gesehen, daß sie die Erde auf den Sarg meiner Mutter nicht etwa sanft aus der Kelle hatte herabgleiten lassen, sondern mit Gewalt hinabgeschleudert hatte.
Der Sommergast, das blonde Heidi, war nicht bei der Trauermesse in der Kirche anwesend gewesen, vielleicht liebte sie als Protestantin solche Zeremonien nicht. Jetzt war sie hier, sie hielt sich, ohne aufzufallen, dunkel und einfach gekleidet, nahe bei meinem Vater, dem ihre Nähe sichtlich wohltat. Erdschollen warf sie nicht hinab. Außer diesen Trauergästen, mit denen man mehr oder weniger gerechnet hatte, waren noch vier andere gekommen, die unerwartet waren. Vroni, sehr abgearbeitet, aber immer noch mit einer Art herber bäurischer Schönheit in den Zügen und in der Haltung, war da mit ihren beiden Kindern, die jetzt 13 Jahre alt waren und von ihr die Schönheit geerbt hatten, die aber bei ihnen noch zart und weich war, und die meinem Vater ähnlich sahen – und mir. Sie alle waren sehr ärmlich gekleidet. Es fiel mir auf, daß die früher kohlschwarzen Haare und die einst so frische blühende Haut der früheren Geliebten meines Vaters messinggelbe Flecke hatten, wie sie die Arbeiterinnen in den Munitionsfabriken bekamen, die mit dem Einfüllen von nitroglyzerinhaltigen Explosivstoffen zu tun hatten. So waren die Spuren des Krieges bis hierher zu sehen.
Wenn das Erscheinen dieser Person für meinen Vater und dessen Heidi eine unliebsame Überraschung war, so war es für mich das Auftauchen der Angelika C, der früheren Hausdame Geheimrat Kaisers, die ich nicht mehr wiederzusehen erwartet hatte. Sie war aber gekommen, sehr würdig in einem gut geschnittenen, tadellos sitzenden Trauerkleid. Ihr Mann, der Major, sei in den Rückzugsgefechten auf dem Feld der Ehre an der Westfront gefallen, teilte sie mir mit, und ich mußte ihr kondolieren wie sie mir. Sie hielt meine Hand länger als nötig fest. Und ich muß sagen, so wie mich die schöne, stolze, unversöhnliche Viktoria entzückt hatte, so tat es mir jetzt wohl, daß die alternde demütige Angelika meine Hand nicht aus der ihren lassen wollte und daß sie mich mit einem bittenden Blick anflehte, das Vergangene zu vergessen. Was hatte ich ihr zu verzeihen? Wir hatten jahrlang zusammengelebt und waren uns dann jahrelang aus dem Wege gegangen. Zu verzeihen gab es nichts. Inzwischen hatte sich der Gottesacker (so hatte meine verstorbene Mutter immer den Waldfriedhof genannt) geleert. Blutrot ging die Sonne über den klar und silbergrau und schneebereift herüberscheinenden Gebirgen unter, es wehte herb und kühl von dem nahen Flusse her, in welchem das Eis krachend trieb. Wir kehrten stumm nach Hause zurück durch die spärlich erhellten Straßen. Vor den Lebensmittelläden standen, wie schon seit drei Jahren, die langen stummen ›Schlangen‹. Die Kanonen waren verstummt, die Flammenwerfer erloschen, die Gasgranaten platzten nicht mehr, und die Flieger schwiegen, der Himmel mit Wolken, Sternen und Blau war wieder zum Himmel geworden, aber es war kein Friede. Der Krieg war aus, die Blockade dauerte an. Hunger, Kälte, Not. Kein Brot kam herein. Wir, als wir abends nach S. heimkamen, waren froh, daß uns das praktische Heidi etwas zum Essen aufgetrieben hatte, es war ein ›schwarz‹, das heißt heimlich geschlachtetes Spanferkel. Sie hatte es sogar zustande gebracht, für den großen Ofen im Wohnzimmer ein paar Stück Kohle und ein paar ordentliche Scheite Holz heranzuschaffen. Vielleicht hätte ich mich an diesen Tisch nicht hinsetzen, an diesem Ofen nicht wärmen dürfen, aber ich habe es trotzdem getan. Ich bin im Laufe des Abends nur auf eine Stunde fortgegangen, um ihn und Heidi allein zu lassen, damit sie alles miteinander besprechen konnten, und bin beim Ortsgeistlichen gewesen, um ihm das Geld für die Seelenmessen zu bringen, wie die Selige es gewünscht hatte. Er hat mich aber etwas länger bei sich festgehalten, als ich angenommen hatte.
Ich lernte in dem Geistlichen einen gütigen, unfanatischen, aber durch die überschwere Zeit schon etwas
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