Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
Vom Netzwerk:
Mutter nach M. transportieren, dort einsegnen und beisetzen zu lassen. Heidi fand es überflüssig und murmelte etwas von süddeutscher Sentimentalität. Ich gab ihr keine Antwort und ordnete alles so an, als wäre ich es, der zu bestimmen hatte. Meine Mutter hatte den Ort S. nie geliebt. Sie hatte oft, zu Zeiten, als sie sich sehr elend fühlte, ihr künftiges Grab in M. besucht und mir sogar die Blumen genannt, die sie darauf gepflanzt haben wollte. Mein Vater gab mir, etwas beschämt, nach.
    Ich als Kriegsteilnehmer mit meinen Auszeichnungen, meinem Stabsarzt- oder Hauptmannsrang, imponierte ihm, und er gestand mir auf der Reise nach M., er persönlich hätte immer gewünscht, es solle alles im Sinne der teuren Dahingeschiedenen geschehen, aber das ›gar praktische‹ Heidi habe ihn auf den Gedanken gebracht, daß die Begräbnisstätte in M. ebenso wie alles seither im Preis gestiegen sei und daß man, ohne jemand zu schädigen, etwas Geld gewinnen könnte, wenn man meine Mutter, die doch nichts mehr wisse und im Himmel sei, auf dem billigen Friedhof von S. beisetze und die Begräbnisstätte in M. verkaufe.
    Ich brachte meinen Vater in dem Zimmer neben dem meinen im ›Ehemaligen Prinzregenten von Bayern‹ unter. Wir hielten die Verbindungstür offen und ließen uns jeder an einem Tisch nieder – er dort, ich hier –, um die vielen Partezettel und Telegramme an alle näheren und ferneren Bekannten aufzusetzen. Mein Vater vergoß häufig Tränen. Mir war dies nicht gegeben. Ich konnte nur sehr selten weinen.
    Ich hatte vielleicht damals noch nicht ganz begriffen, wie groß mein Verlust war. Die Leiche war in einem geschlossenen Wagen nach M. gebracht und dort aufgebahrt worden. Als mein Vater und ich vor der herrlichen Kirche standen, der gegenüber ich als junger Student gewohnt hatte, entsann ich mich der großen Sehnsucht nach ihr und der innigen Zärtlichkeit, die mich damals bei aller meiner Not als Hungerstudent erfüllt hatte, wie ich das heiße Grogglas im ›Abwasch‹ an meine Wangen gepreßt hatte, ihrer gedenkend, und wie ich, aus dem Fenster blickend, ihrer Fotografie die Alpenlandschaft und den Turm der Kirche gezeigt hatte, in deren Innern sie jetzt auf dem mit silbernem Zierat und Kreuzen bedeckten schwarzen Katafalk lag.
    Unversehens waren mir die Tränen gekommen. Ich kniete nun an ihrem Sarge, mein Vater neben mir. Inzwischen hatte sich das Kirchenschiff mit einer Menge Personen gefüllt, und man hörte immer noch Autos und Wagen ankommen.
    Als die Trauermesse zu Ende war, gingen wir an der Spitze eines ziemlich großen Leichenzuges und feierlich zur Kirche hinaus, und es fuhren eine Menge von Pferdedroschken bei strahlendem trockenem Schneewetter zum Friedhof. Dort wurde die Leiche nochmals eingesegnet, es wurde ein kurzes Gebet gesprochen, dann trat ein Totengräber auf meinen Vater zu und drückte ihm, der vor Tränen nichts sehen konnte, eine blanke Kelle in die Hand, damit er etwas Erde in die Grube schütte, in welche man inzwischen an knarrenden Seilen den schwarzlackierten Sarg versenkt hatte.
    Ich sah alles klar, und mit fester Hand schüttete ich ein Stück harte, wie zu Stein zusammengefrorene Erde in die Grube.
    Jetzt hatten wir den unangenehmsten Teil vor uns, den Trauergästen als Leidtragende zu danken und ihnen allen die Hand zu drücken. Ich wußte nicht, sollte ich dazu meine schwarzen Handschuhe ausziehen oder nicht. Mein Vater behielt sie an, es war kalt, und er hat immer sehr empfindliche Hände gehabt. Er lächelte schmerzlich und bescheiden, aber es ehrte und erfreute und tröstete ihn, daß viele seiner Freunde aus seiner besten Zeit sich auf die Traueranzeige in der Tageszeitung hin seiner erinnert hatten und gekommen waren, so der Direktor und dessen Frau, beide in prachtvollen Pelzen, der Besitzer des Hauses, in welchem ich meine Kindheit verbracht hatte, der Anwalt, der ihn verteidigt hatte, seine Freunde vom Stammtisch. Auch von meinen Bekannten waren viele gekommen. Geheimrat von Kaiser, immer noch ungebeugt, mit seinem seltsam verwitterten Gesicht, seinen feurigen Augen unter den buschigen schneeweißen Brauen. Sein Sohn Helmut, der mir warm und vertraulich zulächelte und den ich leise bat, er möchte mich doch bald aufsuchen. Er war in Uniform wie ich. Auch der alte Judenkaiser war erschienen, und er war einer der wenigen, die weinten. Er hatte mit seinem guten treuen Herzen alles vergessen, was zwischen ihm und ihr gewesen war, und sich nur erinnert, daß sie

Weitere Kostenlose Bücher