Ich - der Augenzeuge
›Zange‹, kaum einmal eine ›Wendung‹, nie einen Kaiserschnitt, denn die wahrhaft kläglichen ›Früchte‹ der Frauen nach vier Kriegsjahren waren so dünn, so schlaff, daß die Geburten sehr leicht vor sich gingen. Auch der Blutverlust der armen halbverhungerten Mütter war meist gering. Entstand aber trotzdem ein Blutverlust, waren die Armen verloren, denn wie sollten sie das Blut ersetzen? Auch hatten sie die größte Mühe, zu stillen, und viele wollten verzweifeln. Ich nahm meine ganze Kraft und Suggestion zusammen, ihnen noch Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu machen.
Endlich kam es im Sommer 1919 zu dem furchtbaren, all meine Hoffnungen zu Boden schmetternden Frieden von Versailles.
Und dann trieb es mich damals oft in die Kirche. Wenn die Orgel dröhnend erscholl, wenn plötzlich in der eisigen Stille vor der Hl. Wandlung das Glöckchen leise und doch alles durchdringend erklang, ging ein gewaltiger Schauer durch mich hindurch. Ich versank in einen Rausch, der mich nach oben trieb, durch die gotischen Wölbungen hindurch, meine Wangen brannten, das Herz klopfte, ich warf mich gehorsam und demütig mit den anderen zusammen auf die Knie. Ich betete, obgleich ich nicht glaubte.
Oft zog es mich nun aber auch zu den Massen, die ich bis dahin gescheut hatte. Die katholischen Prozessionen, in denen meine Mutter einst Trost und Vergessen ihrer Leiden gefunden hatte, fanden nicht mehr statt, aber es bildeten sich alle Tage in der Stadt, meist in den Fabrikbezirken, riesige Massenzüge. Die Menschen, fahl, in zerschlissenen Kleidern mit verbissenen, verhungerten, verhärmten Gesichtern, die Fäuste geballt in den Taschen ihrer schlotternden Röcke, viele in Uniform ohne Rangabzeichen, marschierten dahin, stießen dauernd wie aus einem Munde ihre Rufe, ihre Flüche und Verwünschungen, den Namen ihrer politischen Führer oder andere Schlagworte aus. Ich, der ich den Vormittag in der Klinik verbracht hatte als ein klar beobachtender, verantwortungsvoller klinischer Arzt, ein einzelner, hier ging ich in der Masse auf, sie trieb mich unwiderstehlich mit sich. Und ich vergaß mich, die Zeit und ihre Not. Ich muß sagen, ich vergaß, wenn ich in Reih und Glied marschierte, alles Elend leichter als in der Kirche.
Die Not wurde immer drängender. Wenn man geglaubt hatte, sie könne keinen höheren Grad erreichen, stieg sie doch, und kein Ende war abzusehen.
Kriege kannte man, seitdem man Geschichte kannte. Unsere bescheidene Dynastie war nicht die erste, die durch eine bescheidene Revolution gefallen war. Was aber unbekannt war, das war die allgemeine, von der machtlosen, um ihre Existenz kämpfenden Obrigkeit nicht behebbare Hungersnot, die Ohnmacht der Behörden, die Unsicherheit der Straßen, der Mangel an Kohle, Kleidung, an allem Notwendigen – und vor allem die Entwertung des Geldes. Das Geld war nicht mehr heilig, nachdem der König nicht mehr heilig war und die Kirche nicht mehr. Niemand konnte sich diesem Schwunde, diesem sumpfigen Untersinken des Geldes entziehen. Reich war nicht mehr reich, denn alles wurde ärmer mit jedem Tag, nur ein paar ganz Listige ausgenommen, die ihre Künste für sich behielten. Es war, wie wenn ein Schiff, das sich bereits lange Zeit durch Wind und Wetter durchgekämpft hat und sich gerettet glaubt, einfach strandet, weil das Meer sich unter seinem Kiel in den Urgrund, das Nichts, verzieht. Die Meeresmassen, die das Schiff getragen haben, fliehen nach allen Seiten fort. Niemals ist das Wort ›man sitzt auf dem trockenem‹ unbarmherziger und wahrer gewesen als jetzt.
Es schwanden Treu und Glauben. Was man gestern für 100 Mark gekauft oder verkauft hatte, war heute mehr oder weniger wert. Kein Kontrakt, kein Kurs galt, und man zweifelte an allem, nachdem man angefangen hatte, an dem gleichbleibenden Preis zu zweifeln, den ein Laib Kriegsbrot, eine Nacht im Hotel, ein Kleidungsstück aus Ersatzstoff auf Bedarfsschein kostete – oder ein Buch, ein ärztlicher Besuch, ein Stück Seife, eine Briefmarke.
Ich hatte zwei Wohnungen, eine in T., wo ich meine Praxis als Landarzt einrichten wollte, und eine zweite im ›Ehemaligen Prinzregenten‹. Ich sah alles von der Großstadt und vom flachen Lande aus.
Mit der Kleidung haperte es sehr. Ich hatte meine alten guten Uniformen etwas herrichten lassen, indem ich die Schulterspangen und andere Rangabzeichnungen abgetrennt hatte. Diese militärähnlichen Anzüge und die dazu passenden langen Offiziersmäntel trug ich in der
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