Ich - der Augenzeuge
Stadt. Für das Land hatte ich von meinem Vater ein paar noch erträgliche Kleidungsstücke erhalten. Er kleidete sich neu ein, wohl dem Heidi zuliebe, vor dem er als eleganter, noch lebensfreudiger und gut gekleideter Mann erscheinen wollte.
Meine Kleidung aus der Vorkriegszeit hatte ich großmütiger-, dummerweise fortgeschenkt, als ich ins Feld gezogen war. Wer hätte gedacht, ich würde in einer Zeit wiederkehren, in der es keinen echten Faden mehr gab? Auch mein Vater hätte sich nicht einmal ein neues Hemd leisten können für seine Hochzeit, hätte er nicht schon vom zweiten Kriegsjahr an angefangen, zu hamstern und sich gute Sachen auf Vorrat anzulegen, Leinwand, Stoff, ›Edeldevisen‹ und alles mögliche bis zu reinem Fett, ›Edelfett‹ in steinernen Töpfen.
Manchmal blieb mir eine freie Stunde in meiner Arbeit. Ich rief Viktoria an. Sie ließ sich nicht bitten und kam. Wir trafen uns, bald hier, bald dort, fast immer in Gegenwart Dritter.
Sie blieb kühl, das hatte ich erwartet. Aber sie wurde es immer mehr, das tat mir weh. Ich wußte nicht, was sie wollte. Sie begriff mich sehr gut in meiner Verzweiflung über mich und die Zeit, aber sie tröstete mich nicht. Liebte sie noch ihren verstorbenen Mann? Ihr alter Vater brachte in einer Minute mehr Wärme und Güte für mich auf als sie während vieler Monate.
Ich entsann mich meiner Mutter und meines Versprechens auf dem Totenbett. Ich wollte nicht lieben. Ich wollte frei bleiben. Ich wollte keine Jüdin heiraten. Aber ich liebte, zum erstenmal. Ich mußte es. Ich fragte nicht mehr, ob das ›Gefäß‹ rein oder unrein sei. Ich hatte mein Wort am Totenbette meiner Mutter gegeben. Meine Mutter war tot. Viktoria lebte und war schön, um so schöner, je kälter sie war. Ich hätte immer an ihren Lippen hängen mögen, aber diese Lippen waren hart, ironisch, herrisch und gaben weder eine Liebkosung noch ein gutes Wort.
Es war schon sehr viel, wenn sie mir einmal mit abgewandtem, blassem Gesicht gestand, sie habe nichts gegen mich, im Gegenteil, aber sie könne ihren im Krieg gefallenen Mann nicht vergessen, sie habe die Entwürfe seiner Reden gestern verbrannt und dabei unter wütenden Tränen an mich gedacht. Er hätte sein Volk, das deutsche, nicht das jüdische, mehr geliebt als sie. Aber war das der wirkliche Grund? Ich zweifelte.
Mein Vater riet mir, mich an seiner kleinen Holzindustrie zu beteiligen. Er hatte sich umgestellt und war zu der Erzeugung von Möbeln übergegangen. Er sei immer bescheiden geblieben, lächelte er mir vertraulich zu, stehe aber auf festeren Füßen als so mancher andere. Tatsächlich hatte er eine Menge gutes Holz in seinen Schuppen lagern, und er war einer der ersten, die Zahlungen nur in fremder Währung oder auf Grund eines bestimmten Schlüssels annahmen. Da er ›Sachwerte‹ fabrizierte, die von allen Seiten gesucht wurden, ging man auf seine Bedingungen ein, und seitdem ihm das ›Pech‹ mit dem schlechten Material der Brücke zugestoßen war, hielt er große Stücke auf gute, solide Rohstoffe, ausgetrocknetes Holz usw.
Es hatte sich in S. eine Ortsgruppe der Demokratischen Partei aus Kriegsteilnehmern, aber auch aus ganz jungen Männern und Frauen gebildet. Man forderte mich zum Beitritt auf. Man versprach sich sogar viel von meiner Tätigkeit, da ich sowohl als ehemaliger Offizier als auch als Arzt Vertrauen genoß und von mir eine gewisse ruhige Kraft ausgehen sollte. Ich könnte reden und überzeugte, hieß es, und ich glaubte es schließlich, obwohl ich stets nur ein mittelmäßiger, beherrschter Redner war.
Mich hemmte die Anwesenheit einer größeren Menge nicht. Sie feuerte mich aber auch nicht an. Ich sah wohl ein, daß es meine Aufgabe wäre, hier mitzuwirken, denn das Programm war human und politisch einsichtig, es predigte Freiheit, das heißt Ausgleich zwischen dem Herrscherwillen des einzelnen und den Interessen der Massen, es verlangte Ruhe, Geduld und Einsicht in die begangenen Fehler der Kriegs jähre, es stellte klare und mäßige Ziele auf im Gegensatz zu der Ziellosigkeit der Vaterlandspartei, die sich sofort nach dem Zusammenbruch aufgelöst hatte, deren Geist aber noch sehr lebendig war. Aber ich muß es zu meiner Schande gestehen, der Gedanke an Viktoria ließ mich nein sagen, als man mich aus der Menge der Mitglieder herausheben, an verantwortliche Stelle setzen und zum Kandidaten des Landkreises nominieren wollte. Ich glaubte, in ihren Augen zu steigen, wenn ich ein Opfer auf mich
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