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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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vielleicht nicht mehr Zeit, sage es sofort, ja oder nein, nur zwinge dich ja nicht. Aber ich würde doch viel beruhigter sterben, wenn...« Sie hatte doch nicht den Mut, davon zu reden. Sie kam auf den Partezettel zu sprechen, es solle ausdrücklich darin stehen, sie habe ihre lange und qualvolle Krankheit ›mit christlicher Geduld‹ ertragen. »Wirst du dir das merken?« Ich nickte unter Tränen. Dann wollte sie eine Aufzählung der Menschen machen, die wir benachrichtigen sollten, damit sie an der Seelenmesse und Einsegnung in der Kirche von M. teilnehmen könnten. Ich ließ sie aber die Liste nicht vollenden und sagte ihr: »Sprich lieber schnell von dem, was du wirklich auf dem Herzen hast, Mutter, sage mir das, was am wichtigsten ist. Ich werde dir folgen.« – »Du bist noch jung«, sagte sie mit verhältnismäßig sehr klarer Stimme. »Du bist jung und mußt leben. Du wirst heiraten. Ohne Ehe kann der Mensch nicht sein, besonders jetzt nicht, in dieser Zeit. Ihn kann ich nicht hindern, er mag tun, was er will. Du aber versprich mir, du heiratest keine Lutheranerin, keine Jüdin gar. Es würde euer Segen nicht sein. Dein Vater hat niemals an die Hl. Dreifaltigkeit geglaubt. Deshalb hat er dich mir abspenstig gemacht, und wir sind unglücklich geworden. Du sollst eine brave Frau, eine gute Katholikin heiraten, arm oder reich, ganz gleich, darauf wirst du nicht sehen. Glaube mir ...« Ich ließ sie nicht mehr mit langen Reden sich anstrengen und versprach es ihr.
    Mein Vater kam, in einem kurzen Jagdpelz, den Opossumkragen voll Schnee. Das Heidi kam gleich hinter ihm. Er war sehr froh, daß ich da war, und zeigte mir ein paar Briefe, die er mir geschrieben hatte, die zurückgekommen waren und welche der Postmeister ihm eben gegeben habe. Heidi machte sich am Bette meiner Mutter zu schaffen, die ihre geschickten Dienste dankbar und viel geduldiger entgegennahm, als ich gedacht hatte. Sie sprach nicht mehr viel, lag da, keuchte, hustete, und ihre Hände bewegten sich scheu auf der Decke. Ich ging und holte den Geistlichen. Er kam gegen acht und gab ihr die Letzte Ölung. Draußen lag tiefer Schnee, und Heidi schaufelte im Licht eines Kienspans (Kerzen gab es hier wohl schon lange nicht mehr) mit kräftigen Schneewürfen den Weg zum Gartentor breit aus.
    Wir dachten, um Mitternacht sei es aus, aber es dauerte bis zum Morgen. Ich lag an dem Bette der Armen, mit der Stirn an der hölzernen Kante der Bettstelle. Ich hätte gerne gebetet, die liturgischen Worte kamen mir ins Gedächtnis zurück, aber beten konnte ich nicht. Und ich wußte, wenn ich es jetzt nicht konnte, würde ich es nie mehr können, komme, was wolle.
    Mein Versprechen war mir nicht weiter schwergefallen. Heiraten und Lutheranerinnen lagen mir jetzt nicht im Sinn. Ich dachte nur an etwas anderes, das ich bereute, nämlich, daß ich zu ihrem Schmerz vor Jahren meine Tagebücher in griechischen Lettern und dann in Runenschrift geschrieben, daß ich mein unnützes Geheimnis vor ihr verborgen, daß ich ihr das Unrecht niemals ganz verziehen, daß ich sie nicht genug geliebt hatte, daß ich allein gelebt hatte mit Kaiser als Vater und ohne Mutter. Aber sie liebte ich doch! Und ich hatte sie mit meinem ganzen Herzen geliebt. Ich hatte wohl nur mittlere Gaben, und etwas Ungeheures war mir nicht gegeben. Es ist etwas Ungeheures, ein Unrecht zu vergessen und auf einen Schlag mit einem Kuß zu antworten. Es geht über Menschenkraft und tut doch not. Ich verstand jetzt, daß sie mir gegrollt hatte, daß sie immer auf mich gewartet hatte im Glauben, ich würde mich überwinden, ich würde auch ein Unrecht auf mich nehmen und sie mehr lieben als sie mich. Jetzt hörte ich, durch das Brett des Bettes fortgeleitet, genau den immer leiser werdenden Schall ihrer Atemzüge. Ich war Augenzeuge auch jetzt, unter Tränen, Seufzern und in meinem Leid. Gegen Morgen stand ich dann auf, als alles aus war, und erlaubte meinem Vater und Heidi nicht, näher zu kommen. Ich drückte ihr die Augen zu. Ich legte ihr die Hände zurecht, die noch ein wenig von dem heiligen öl der Sterbesakramente an sich hatten, womit man sie am Abend gesalbt hatte. Sie konnte in dem schwarzen Kleid bleiben, nur der Wollsweater paßte nicht zu ihr. Ich tat ihn weg, ebenso wie die vielen unnützen Arzneien.

Dritter Teil
    Meine Eltern hatten schon vor vielen Jahren im ›Waldfriedhof‹ von M. eine Begräbnisstätte gekauft. Mein Vater war aber jetzt nicht dafür, die sterblichen Überreste meiner

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