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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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um den Lebensunterhalt heranzuschaffen, mußte mehr Menschen beschäftigen, und die Politik durfte mich nicht so viel Zeit kosten wie bisher. Alles wurde viel teurer. Aber ich mußte mit den Honoraren heruntergehen, meine Zeit strenger einteilen, auf manches verzichten und wieder mehr mit dem Pfennig rechnen. Unsere Partei blieb stationär.
    Die Sozialisten hatten bei den nächsten Wahlen keine großen Einbußen, aber die extremen Rechtsparteien wie die H.s und die extremen Linksparteien wie die Kommunisten fanden ungeheuren Zulauf von den jungen Wählern, die der Agitation unterlagen und arbeitslos waren, zum Teil noch nie gearbeitet hatten, und von den Schichten, die durch den Krieg und die Revolution und die Inflation entwurzelt, entbürgerlicht waren und jetzt den letzten Rest festen Bodens unter den Füßen verloren. Alles war wie im Moor.
    Es herrschte unter einer dünnen Schicht von Ordnung Anarchie von links und von rechts. Es blieb, wenn man logisch dachte, auf die Dauer für das arme Deutsche Reich keine andere Staatsform übrig als die parlamentarische Republik, eben dieses so geringgeschätzte Weimar, oder die Rückkehr zu den Dynastengeschlechtern. Der alte ehrenhafte Reichspräsident war (und er machte kein Hehl daraus) seinem angestammten Herrscherhause treu ergeben, aber er sah ein, daß deren Rückkehr ohne Revolution unmöglich war, und diente dem System. Man achtete ihn.
    Geliebt und gehaßt wurde H. Er hatte inzwischen Norddeutschland erobert, die Arbeitermassen hörten auf ihn, mit Liebe die einen, mit Haß die anderen, er ließ keinen kalt.
    Die Arbeitslosen kamen ihm mit unermeßlichen Hoffnungen entgegen, seine Partei schwoll an wie eine Lawine, in kurzen Intervallen erhob sie sich von 12 auf 107, dann auf 230 Reichstagsmandate. Er selbst war Ausländer, österreichischer Staatsbürger geblieben, ging einfach einher, arbeitete mit unbeschreiblicher Energie, nur für die Sache, das heißt für sich. Er hatte keine Würde angenommen. Er herrschte unbestrittenermaßen über eine halbe Million SA-Männer, die mit Hilfe des aus Bolivien zurückgekehrten Hauptmanns R. und dank der Gelder der Schwerindustrie, die Angst vor den Kommunisten hatte, militärisch organisiert waren. Er redete, und je mächtiger er wurde, desto ungeheurer wurde die Kraft seiner fanatischen Reden, die alle erfaßten.
    Auch an mich war man herangetreten, zuerst mit der Aufforderung, mich der neuen Partei anzuschließen, dann mit der, wenigstens einen größeren Beitrag zu zahlen. Ich verweigerte beides.
    Eines späten Abends hieß es, ein Mann in Parteiuniform wolle mich sprechen. Er wollte aber nicht in mein Sprechzimmer kommen, sondern wartete im Garten im strömenden Regen. Es war Helmut. Er gab mir nicht die Hand, griff nicht an seine Mütze. Er sagte mir nur kurz, es sei ›unter maßgebenden Persönlichkeiten‹ etwas in Umlauf, was er nicht glaube, wovon er mich aber benachrichtigen müsse als ›ehemaliger Freund‹. Ich hätte Papiere, Akten und Protokolle über ihn (er nannte nicht den Namen, jeder mußte wissen, wer es war) verborgen. Ich solle sie ihm ausfolgen. Sie würden vernichtet werden. Ich würde keine Unannehmlichkeiten wegen dieser Aktenunterschlagungen haben. Ich weigerte mich auch jetzt.
     
    Ich hatte die Papiere längst im Moor aus ihrem kleinen Versteck herausgeholt und bewahrte sie in einem kleinen Kassenschrank auf. Meine Frau wollte wissen, was ich draußen besprochen hätte. Ich antwortete ihr ausweichend. Wie als junger Mensch, der sein Tagebuch in Runen auf Holzbrettchen zu schreiben pflegte, wollte ich mein Geheimnis haben. Ich wollte mich meiner Frau, die ich mit allen Fasern meines Herzens liebte, ebensowenig ganz ausliefern, wie ich mich meiner Mutter hatte ausliefern wollen. Ich hatte nichts gelernt aus den trüben Erfahrungen meiner Jugend. Damals hatte ich meine Mutter mißtrauisch gemacht, ich hatte durch dieses Mißtrauen ihre Liebe verloren, ich habe dieses doch so unschuldige Geheimnis teuer bezahlt.
    Ich glaubte an keine neue Revolution, die durch H. hätte aufflammen können. Sie war meiner Ansicht nach zu sinnlos. Sie konnte, davon war ich fest überzeugt, die Lage der breiten Volksschichten nicht verbessern. Es standen bei H. nur drei Punkte fest: der erste war der Führergedanke nach Art eines Mussolini, eines alleinherrschenden, ganz auf Gewalt gestellten Diktators, des Volkskaisers in brauner Uniform. Weil er aus Braunau stammte hatte er das Braun zu seiner Lieblingsfarbe

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