Ich - der Augenzeuge
losreißen können. Ich liebte zum erstenmal, als reifer Mann. Sie blieb kühl, als ich das erstemal nach langer Trennung kam. Aber mit der Zeit löste sich etwas in ihr, und als sie am Sterbebette ihres Vaters zu weinen begann, faßte sie meine beiden Hände, wie meine Mutter sie einmal gefaßt hatte, um mich festzuhalten. Es war der Augenblick, auf den ich seit vielen Jahren gewartet hatte. Sie war am Rande ihrer Jugend, ich ebenso. Sie war noch sehr schön. Ich hatte schon ein paar graue Haare. Ich entsann mich, auch meine Mutter war früh ergraut. Mein Vater hatte weniger graue Haare als ich. Er lebte jetzt in glücklicher Ehe mit seinem Heidi, baute vergnügt und seelenruhig ein zweitesmal ein Haus für sich. Kinder hatten sie nicht. Da aber mein Vater kinderlieb war (und das machte ihn liebenswert), ließ er oft seine unehelichen Kinder kommen. Sie sahen dies als eine Gnade an.
Meine frühere Geliebte hatte sich mit ihnen angefreundet und wollte ein Turmstübchen in der neuen Villa beziehen. Sie war mit dem blonden Heidi ein Herz und eine Seele. Sie alle, mein Vater, Heidi, Angelika, kamen, um mir mit süßsäuerlicher Miene zu meiner Verlobung mit Viktoria zu gratulieren. Ich hatte auch Helmut Mitteilung gemacht, er antwortete nicht auf meinen Brief.
Sein Vater schrieb mir aus Italien, wo er mit Katinka lebte. Ob in Frieden, war nicht ersichtlich. Ich hätte es ihm sehr gegönnt. Ich wurde jetzt, da eine Zeit langen friedlichen Glücks in meinem Haus für mich anzubrechen schien, allen von Herzen dankbar, die mir früher geholfen hatten. Wie hätte ich Kaiser vergessen können? In meiner Partei war ich geachtet. Sie machte immer noch Fortschritte, wenngleich nur mäßige. Die Jugend, die Frauen kamen spärlich, wir waren ihnen zu nüchtern, wir schmeichelten ihnen nicht genug; wahrscheinlich verstanden wir nicht, mit ihnen zu sprechen und sie aufzuwühlen und zu berauschen.
Meine Frau hatte sich endlich mit dem Gedanken abgefunden, daß ich neben meinem Beruf auch politisch tätig war. Auch sie war jetzt nach vielen freudlosen Jahren glücklich geworden, erwartete ein Kind und war dem Schicksal ergeben wie ich. Manchmal kam mir in den Sinn, weshalb wir uns nicht schon längst vereinigt hatten. Aber es waren nutzlose Gedanken. Wozu? Wir hatten viel Arbeit und waren abends froh, wenn wir sie geleistet hatten.
Die Lage des Reiches wurde nach der überraschenden Blütezeit von 1923 bis 1929 allmählich wieder kritischer. Die Arbeitslosigkeit setzte langsam ein und wuchs unaufhaltsam. Die viel zu plötzlich und ohne genügende Geldreserven vorgenommene Rationalisierung rächte sich. So klagte mir Vroni, ihr Mann habe zwar eine Menge Arbeiter durch neue amerikanische Zigarettenmaschinen ersetzt, aber die Abnehmer fehlten (Arbeiter waren ihre beste Kundschaft gewesen). Sie war empört, daß man ihren Sohn ohne Grund aus der Maschinenfabrik entlassen hatte. ›Marxisten! Juden!‹ murrte sie. Er lungerte anfangs im Hause herum, hatte sich aber dann, vielleicht auch aus ideellen Gründen, seinem Abgott H. angeschlossen, war einer uniformierten, aber nicht ganz legalen Truppe, der SA, beigetreten und bezog einen kleinen Sold, der unregelmäßig ausgezahlt wurde. Da er aber seine Arbeitslosenunterstützung außerdem bekam (von dem Staate, den er unterwühlte), konnte er sogar etwas Geld daheim abliefern. Die SA bekam bald stärkeren Zulauf. Die Arbeitslosigkeit stieg nun etwas schneller, ich merkte es an den Kassenpatienten, und mit ihr schwollen das Elend, die Unzufriedenheit an. Ein neues Warten auf den Messias, die Anklage gegen Weimar, der Haß gegen die Beamten, die Bonzen, gegen die Abgeordneten, die Parasiten, das Verzweifeln an der bestehenden Rechtsordnung, am System und sogar an Gott.
Die Wahlen zum Reichstag fanden in immer kürzeren Intervallen statt.
Niemand erwartete aber etwas Entscheidendes von den alten Parteien. Die nationalrevolutionäre Partei H.s, die wie die alte Vaterlandspartei eine Partei über allen anderen sein wollte, aus dem Zusammenbruch von 1923 wie ein Phönix aus der Asche aufgestiegen, zog allmählich alle die Verzweifelten, an der Zukunft Irregewordenen an sich.
Mir war inzwischen ein Sohn, Robert, und drei Jahre später eine Tochter, Lise, geboren worden. Wir waren alle glücklich. Ich hätte nie geglaubt, daß ich und Viktoria eines solchen Glückes fähig wären. Jetzt, glaubten wir, müsse es ewig dauern bis zu unserem ›natürlichen Ende‹.
Ich mußte schwerer arbeiten,
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