Ich - der Augenzeuge
unerbittlichen, unersättlichen Feinde groß. Sie war der Augenzeuge ihres Untergangs, und als ein Wunder sie rettete, verstand sie es nicht. Sie hatte ihre Feinde nie verstanden. Sie hielt sie für ihresgleichen! Sie vertraute ihren feierlichen Versprechungen, nahm ihr ›Ehrenwort‹ ernst.
So kam es zum Putsch vom November 1923. Die Reichswehr glaubte, der Aufruhr, den H. organisiert hatte, werde zu ihren Gunsten gemacht, die braven alten Bürgerkreise, die Beamten wie von Kahr, die mit Geld und Einfluß hinter H. standen, glaubten, es werde zu einer Gegenrevolution aufgerufen, um das alte, immer noch beliebte Königshaus auf den Thron zu setzen. Aber H. hatte nur an sich gedacht. Das hatte ihm niemand zugetraut, vielleicht er selbst sich nicht. Er sollte ein zweites Wunder sein.
Er war gesprungen, aber zu kurz. Bayerische Landespolizei, auf die H. sich verlassen hatte, schoß scharf, Ludendorff, an der Spitze von H.s Zug, ging kalt durch das Feuer. Die Minister, eine Nacht lang überrumpelt, waren am nächsten Morgen wieder zur Klarheit erwacht.
Alles schien verloren. Gegen Ludendorff, der auch diesmal die ›Kriegsziele‹ nicht richtig eingeschätzt hatte, konnte niemand an. Ganz Deutschland mußte ihm auch jetzt noch treu bleiben, dankbar sein, daß er den großen Krieg in so grandioser Manier verloren hatte und daß er Weimar zum zweitenmal verriet.
Wie Ludendorff war auch H. durch ein Wunder unverwundet dem prasselnden Kugelregen der Landespolizei entgangen. Das Wunder heftete sich auch weiter an seine Fersen. War ich nicht selbst einer gewesen, der Wunder an ihm getan, ihn aus einem Blinden zu einem Sehenden gemacht hatte? Er stellte sich dem Gericht. Man läßt Gnade walten. Fast ging er als Sieger über seine Richter, über die verratenen Verräter aus dem Prozeß hervor. Er wurde zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt. Als er bereits nach sechs Monaten aus dem Gefängnis kam, hatte sich aber zu seinem Unglück Deutschlands Lage wahrhaft wunderbar gebessert. Es bestand wieder eine feste Währung. Die Besetzung des Ruhrgebietes war dank Briand und Stresemann zu Ende. Die Menschen besannen sich auf sich selbst, arbeiteten, hofften und bauten langsam wieder auf.
Vroni hatte geheiratet, und zwar (dank des kleinen Kapitals aus der Erbschaft von meiner Mutter) einen kleinen Zigarettenfabrikanten vorgerückten Alters, in dessen Fabrik das Geld arbeiten sollte. Er war anspruchslos und fleißig, gemütlich und bierfreudig. Er hatte eine zahlreiche Familie, für welche Vroni im Hause zu sorgen hatte. Mein Stiefbruder wurde Fräser in einer großen Maschinenfabrik, meine Schwester ging als eine Art von besserem, aber unbezahltem Dienstmädchen ihrer Mutter im Hause zur Hand. Man lebte zwar noch etwas kärglich, aber alles war unverkennbar im Aufstieg.
Ich hatte mich von Angelika getrennt. Ich traute ihr nicht mehr. Ich sah in ihr das ›unreine Gefäß‹, sie vielleicht das gleiche in mir. Rein war H., ich nicht. Ich atmete auf. Diese überhitzte Leidenschaft hatte mir nicht gut getan. Sie war zu heiß, und mir wurde nicht warm bei ihr. Ich nahm eine ältere Frau aus der Gegend in Dienst, die mir zwar das Haus gut führte, aber mir in keiner Weise bei meinem Beruf zur Seite zu stehen vermochte.
Ich sah Kaiser wenig, Helmut gar nicht mehr. Er mied mich mit Absicht. Er glaubte immer noch an H., ja, mehr denn je zuvor. H. war und blieb für ihn ein Sendbote des deutschen Gottes, ja der deutsche Christus in Person. Auch Vroni und ihre Kinder verblieben in ihrer Anbetung für den Mann, den sie bemitleideten, weil man ihn ärger als Christus am Kreuz gepeinigt haben sollte. Tatsächlich hatte er sich in der Festung völlig erholt und hatte stark an Gewicht zugenommen. Aber das wollten sie nicht glauben, sie weinten bittere Tränen über seine ›Qualen und Martern‹. Abgesehen von seiner himmlischen Rednergabe, bei der der Herrgott aus ihm spräche, hatte sie, wie Angelika, sein keusches ›fleischloses‹ Wesen bezaubert, daß er seit Jahren keinen Bissen Fleisch berührte, daß er sich von den Frauen fernhielt, daß er keinen goldenen Ring trug, daß er nichts für sich wollte – und so dankbar sei für Liebe und Zärtlichkeit. Es war der glühende Glaube der ersten Christen.
In diese Zeit, 1924, fiel die schwere Krankheit des Doktor Kaiser, des Vaters Viktorias. Ich hatte ihn in der letzten Zeit öfter aufgesucht, schon um Viktoria wiedersehen zu können. Ich hatte mich also doch nicht von ihr
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