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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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Polizei, die sofort zu schießen hatte. Der harmlose Gummiknüppel wich dem Revolver. Abschaffung des Rechtsweges.
    Jeder dachte, dies würde nur eine kurze kritische Zeit hindurch dauern. Keine Maßnahmen gegen die Juden. Man versprach ihnen sogar, man würde ihnen Handel und Wandel gestatten wie bisher, wenn sie sich ruhig verhielten. Was hätten sie, eine winzige Minderheit, weniger als eins auf hundert, machen können? Sie verstummten wie alle, drängten sich aneinander wie alle und zitterten wie das ganze Land, die Anhänger der Terroristen ausgenommen. Neuwahlen fanden statt. H. hatte dem Reichspräsidenten versprochen, er würde keine veranstalten. Nun brach er zynisch-unschuldig sein Wort, wie er es 1923 den Generälen gegenüber gebrochen hatte. Sie ergaben für die Nationalsozialisten keine Majorität. Nur mit den zögernden, schlecht geführten Deutschnationalen zusammen hatten sie ein Prozent über die Hälfte aller Stimmen. Der Führer versprach jetzt treuherzig den Deutschnationalen ewigen Anteil an der Macht. Ein paar Monate später waren sie herausgedrängt. Damit hatte die kleine, aber vor nichts zurückschreckende Minorität H.s Übermacht über eine entzweite Majorität.
    Wer hätte wagen dürfen, dem Deutschesten aller Deutschen Wortbruch vorzuwerfen? Er glaubte immer an das, was er sagte. Aber nur so lange, als er es sagte oder sich dessen erinnerte. Die Erinnerung aber wechselte und täuschte ihn, den armen. Er war wirklich arm, gesehen von einem Gesunden, einem Arzt. Meine Mutter, eine Frau aus dem Volk, hatte nie nach Ärzten gerufen. Sie machte Gelübde in der schwersten Not! Sie trat eine Prozession an, wie die zur Muttergottes von Altötting, also zu einer wundertätigen Frau.
    Hier war ein Wunder geschehen. Wie konnte ohne ein Wunder aus diesem Mann, dem stellungslosen Anstreicher aus Wien, der mächtigste Mann des Deutschen Reiches werden? Wo hörte die Lüge auf, wo begann das Wunder? Er selbst glaubte an Wunder, hörte Stimmen, dankte der Vorsehung. Gott sei mit ihm, schrie er, und Gott war mit ihm. Heute wie 1918. Mein Wort war fürchterlich und göttlich wahr geworden: er hatte sich geholfen, und Gott hatte ihm geholfen.
    H. war jetzt nicht mehr der Mann mit der schmalen Gefreitenlitze an den Schulterklappen und dem angezweifelten Eisernen Kreuz Erster, er war der Höchste und bald darauf der Einzige im Staate. Er hätte schweigen können. Die Kommunisten waren vernichtet, ebenso wie die bürgerlichen Parteien, wie alles, ihn ausgenommen! Aber er ließ einen Journalisten einer amerikanischen Zeitung kommen und sagte ihm wörtlich: ›Als wir in jener Nacht des Brandes im Reichstag und im Berliner Schloß Hilfeschreie per Telefon, Draht und Rundfunk aus ganz Deutschland über die bevorstehende bolschewistische Verschwörung und Umwälzung erhielten, entschloß ich mich, rücksichtslos alle mir zur Verfügung stehende Gewalt, alle Sturmkräfte sofort einzusetzen. Die Enthüllungen, die zwei Stunden später gemacht wurden, haben mir recht gegeben. Allein in Berlin fand man bei der sofortigen Besetzung der öffentlichen Gebäude, einschließlich der Universität, der Bibliothek und zahlreicher Berliner Bezirksrathäuser und der Brandherde, Zündschnüre, mit Benzin durchtränkte Zündwolle und Explosivstoffe. Hätte ich nicht in jener entscheidenden Stunde für Ordnung und Frieden der bolschewistischen Inbrandsetzung Deutschlands entgegengehandelt, wären nicht nur der Reichstag und das Schloß, sondern sämtliche öffentlichen Gebäude Deutschlands und, wer weiß, vielleicht das ganze Abendland ein Schutthaufen. Die kommenden Gerichtsverhandlungen werden der Welt die Augen öffnen über die Sensationen der Nacht, die aus dem gefundenen Material hervorgehen, das bisher der Untersuchung wegen nicht enthüllt werden konnte. Das Beweismaterial garantiert die Aufdeckung eines bolschewistischen Weltkomplotts.‹ Soviele Worte, soviele Lügen. Soviel Angeben, soviel Phantasien. An diesen in der ganzen Welt verbreiteten Ausführungen, die besonders in England und Amerika die Angst vor dem ›bolschewistischen Weltkomplott‹ ungeheuer angefacht haben, ist nichts wahr. Der Führer hat niemals bewiesen, was er angekündigt hatte, er hat es nicht einmal versucht.
     
    Wenn einer, mußte ich den neuen Herrn der Welt kennen. Ich mußte ihn fürchten, ich mußte ihn fliehen, da er der Starke war, ich der Schwache. Im Grunde meines Herzens lockte, reizte, bezauberte mich aber die Gefahr, und wenn es

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