Ich - der Augenzeuge
gewählt und seine Million SA-Männer in braune Hemden und Uniformen eingekleidet. Der zweite war die Aufrüstung Deutschlands für den Revanchekrieg. Hatte aber schon der Sieg von 1918 den Alliierten, den Franzosen, Engländern, Amerikanern usw., keinen Segen gebracht, hatte sich der von ihnen angeblich bis zur Vernichtung geschlagene Feind, Deutschland, trotz der Niederlage in wenigen Jahren fast völlig erholt, was konnte dann ein neuer Weltkrieg mit neuen Hekatomben von Menschenopfern und Verwüstungen an dauernden Erfolgen bringen? War es nicht besser, an den Frieden vor dem Krieg zu denken als nachher? H., so unersättlich er war, konnte doch nicht ganz Europa verschlingen und den Rest der bewohnten Welt dazu? Der dritte Punkt war der Judenhaß. Ich konnte nicht glauben, daß die Befriedigung dieses Hasses gegen einen winzigen Volkssplitter die Sieger über den ›Judt‹ glücklich machen könnte. Aber H. rechnete besser. Er rechnete mit der ungeheuren Kraft der Lüge, des rücksichtslos angreifenden Hasses, er ging immer mit brutaler Gewalt vor, auch wenn er ohne diese sein Ziel hätte erreichen können, und baute auf drei Grundeigenschaften des Menschen, auf seine Bestialität, seine Schwäche und seine Feigheit. Diese Triebe bestanden vielleicht in jedem Menschen. In ruhigen Zeiten wurden sie von der Vernunft und dem Gesetz unterdrückt. In gefährlichen Zeiten wurden sie entfesselt und brachen sich Bahn. Ich, ein Arzt, ein Forscher, ein kaltblütiger Mensch, war der Unterseele im Krieg unterlegen und hatte bestialisch gehandelt. Wenn ein Mensch wie H. imstande war, Millionen sich bis zum Kadavergehorsam zu unterjochen, waren ihm dann noch Schranken gesetzt? Hatte er etwas anderes zu fürchten als den Tod?
Aber waren wir, die Menschen der Mitte, des Maßes, wirklich die Schwachen, wenn wir uns vereinigten? Die extreme Linke, Anbeterin der Gewalt ohne Opposition, einer brutalen Diktatur, genau wie die Rechte, schloß sich keineswegs uns, den gemäßigten Parteien, an. Sie ging mit der extremen Rechten zusammen. Die Kommunisten sahen nicht in H. ihren Feind, sondern in der gemäßigten Sozialdemokratie. Der Reichstag wurde aufgelöst und wieder gewählt Und wieder aufgelöst, weil die Kommunisten mit den Nationalsozialisten H.s gemeinsam eine Front, eine Sperrmajorität bildeten.
Es kam zur Wiederwahl des Reichspräsidenten. Der alte Marschall wurde wiedergewählt von den gemäßigten Parteien. Er erhielt eine hohe Majorität. Waren wir also gerettet? Waren wir in der Überzahl? Aber wir hatten nicht damit gerechnet, daß die geradlinige Energie des alten Ehrenmannes sich würde beugen lassen, wenn sein altes Vaterherz ins Zittern kam. Sein Sohn wurde durch einen Bestechungsskandal kompromittiert. Nur die äußerste Rechte konnte ihn und die Kaste des Marschalls retten. Nur A. H., der soeben geschlagene, konnte den Sieger retten! Der Präsident des Reiches war zuerst Vater und Offizier und Adeliger, dann erst Präsident und Augenzeuge, oberster Richter über den Parteien. Er scheute die Schande. Er gab nach. H. wurde Reichskanzler. Aber noch bestand die Verfassung. Die bürgerlichen Rechte waren nicht aufgehoben.
Nun ließ H. den Deutschen Reichstag in Brand stecken. Was bedeutete ihm und seiner Partei das Gebäude des Reichstags? Weniger als nichts. Denn das Parlament war von ihm stets mit Verachtung bedacht worden. Aber der Masse bedeutete es etwas als das Wahrzeichen der parlamentarischen Regierungsform, der Freiheit. Der neue Kanzler des Reiches brachte es, während die Flammen aus dem Gebäude aufschlugen, dazu, Entsetzen und Schauder im Bürgertum zu verbreiten. Er, der keine andere Freiheit kannte als die seine, warf sich ›kraft eignen Rechts‹ selber zum Verteidiger der Freiheit auf, zum Schützer der parlamentarischen Rechte, zum Hüter der Ordnung. Er, der Revolutionär, war für die alte liberale Tradition. Die Gefahr kam nach seinen Reden (vielleicht glaubte er auch an seine Phantasien) von der extremen Linken, den Kommunisten.
Angezündet hatten also den Reichstag die Kommunisten. Sie waren es und sie allein, die Revolution und Umsturz alles Alten und Guten und Freiheitlichen wollten. Sie mußte man unschädlich machen. Sie mußten sterben, damit Deutschland lebte. Er ordnete zuerst die Unterdrückung aller bürgerlichen Freiheiten an. Keine Arbeiterrechte mehr. Keine Versammlungen, keine Redefreiheit, keine Pressefreiheit. Kein Brief-, kein Telefongeheimnis mehr. Unbeschränkte Rechte der
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