Ich - der Augenzeuge
er sich keiner Frau aus seinem Stamme, aus seinem ›deutschen Blut‹ mehr hingeben, marterte ihn dies, machte dies ihn schlaflos, machte dies ihn lieblos, unersättlich – und gab ihm dies die ungeheure fanatische Kraft? Hatte er diesen feinen Splitter unter dem Nagel und schlug aus diesem Grunde mit so brutaler Faust zu? Auf dem Grunde seiner Haßgesänge und seiner Tugendgewitter lag oft etwas wie Verzweiflung. Sein Hassen war eine Quelle ungeheurer Kraft. Keine Rücksicht, keine Milde und Vernunft, keine Liebe hat ihn gehemmt.
›Der Sowjetstern ist der Stern Davids‹, sagte er,›das Wahrzeichen der Synagoge.‹ In Wirklichkeit ist der Davidsstern sechseckig, denn er besteht aus zwei ineinandergeschobenen Dreiecken, der Sowjetstern aber ist ein in einem Zuge zu zeichnendes Fünfeck. Er als früherer Zeichner wußte es wohl. Und dennoch log er und glaubte, daß er die Wahrheit sprach. Er verblendete sich kleinlich in dieser Kleinigkeit, wie er sich in großen Dingen großartig verblendete. Und doch, mit jeder seiner Lügen gewann er mehr Macht als je ein nüchterner Wahrheitsfanatiker mit einer ›beweisbaren Tatsache‹. Ihm glaubte man, einem Rathenau nicht. ›Der Davidsstern ist das Symbol der Rasse über der Welt, einer Herrschaft von Wladiwostok bis nach Westen, der Herrschaft des Judentums. Der goldene Stern bedeutet dem Juden das gleißende Gold, der Hammer bezeichnet den freimaurerischen Einschlag. Die Sichel den grausamen Terror!‹ Die Sichel, das Sinnbild der Ernte, das kleine friedliche Ding, glitzernd auf den grünen Hügeln des gemähten Grases – das Sinnbild des grausamen Terrors! Angelika glaubte es, sie schwor auf ihn. Sie war schon lange keiner Vernunft mehr zugänglich. Sie, die mir gegenüber so sklavisch war, ließ sich kein Tüpfelchen von ihrem neuen Evangelium rauben. Und sie kannte doch viele süddeutsche Juden. Sie hatte immer ihre Freundlichkeit, ihre Dankbarkeit, ihre Ehrenhaftigkeit gerühmt, wenn sie von ihnen als von Kranken oder als von den Angehörigen der jüdischen Patienten in Kaisers Klinik gesprochen hatte. Sie besaß noch ein paar Schmuckstücke, die sie jüdischen Patienten oder ihren Verwandten verdankte, und sie trug diese Schmuckstücke in den Versammlungen.
Es waren so ungefähr die letzten Reste ihres früheren Wohlstandes. So wie sie fast zur Bettlerin verarmt war durch die Entwertung des Geldes, waren es Millionen mit ihr. Die Ruhr war besetzt. Die Mark hatte kaum mehr den Wert des Papiers, auf dem sie gedruckt wurde. Alles war im Chaos. Die Franzosen hatten Banknotenpressen beschlagnahmt und vermehrten noch die Papiersintflut.
Weimar besaß keine Autorität mehr. Süddeutschland wollte sich von Norddeutschland trennen, oder besser gesagt, die fanatisch nationalistische Partei, der H. ungeheuren Aufschwung gegeben hatte, verweigerte zwar Weimar, dem ›System‹, den Beistand, wenn es gegen die Polen Krieg geben sollte, sie traf aber die intensivsten Vorbereitungen zu einem Krieg des Südens gegen den Norden, gegen das Kernland des Marxismus, das verseuchte Proletarierland. Süddeutschland mit seinen starken Bauermassen wollte Norddeutschland erobern. Die süddeutschen Truppen verweigerten dem Norden den Gehorsam, die Goldreserven und Devisenvorräte der bayerischen Banken durften nicht mehr über die Grenze, und es sollte im Frühjahr 1932 der letzte Trennungsschnitt zwischen dem gesunden und dem kranken Teil des Reiches rücksichtslos mit blutiger Schärfe ausgeführt werden. Deutsche gegen Deutsche? Einerlei. Die höchsten Behörden in Bayern standen mit H. im Bunde. Sie seien zuerst Deutsche, dann Beamte, rühmte er. Das heißt, sie hätten ihren Beamteneid um ihrer fanatischen nationalen Ziele willen zu brechen.
Viele im Lande sahen es mit Grauen. Noch war ein Widerstand möglich. Die Massen waren nur betäubt durch die Not, von der Flut bedrängt und von ihrer alten Stätte losgerissen, aber nicht betrunken. Sie waren noch nicht vergiftet, sie waren nur im Augenblick geblendet.
Ich habe viel in Versammlungen gesprochen. Ich habe jede freie Minute, die mir mein Beruf ließ, der guten Sache gewidmet. Die Zahl unserer Anhänger wuchs. Die Beiträge liefen ein, auch die Jugend kam. Wäre die Reichsregierung energischer, wäre das ›System‹ unsystematischer, kühner, befeuernder gewesen, man hätte viel mehr erreichen können.
Aber sie glaubte, unparteiisch gegen rechts und links sein zu müssen. Sie schwächte ihre Verteidiger und machte ihre
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