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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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tragisch ist, sehend in sein Verderben gegangen zu sein, bin ich tragisch. Es ist aber nur tragikomisch.
    Sofort nach der Machtübernahme war eine ungeheure Schlammflut von Denunziationen losgebrochen. Väter denunzierten ihre Söhne, Söhne ihre Väter, Frauen ihre Männer, in der Hoffnung, von dem neuen Regime Vorteile zu erlangen, oder einfach aus Rachsucht, Haß, aus der Niedrigkeit ihrer Natur. Das Niedere war jetzt in allen hochgekommen, und wer sich dem weißseidenen Pantoffel des Papstes in Rom oder dem Degenknauf eines Marschalls im alten Kaiserlich Deutschen Hauptquartier nicht hatte beugen mögen, küßte jetzt mit Wonne die Sohlen eines Menschen, den noch zahlreiche Menschen als Vaganten auf dem Straßenpflaster Wiens gekannt hatten. Aber gerade, daß er so klein gewesen war, daß er aus dem sumpfigen, brodelnden, stummen Urgrund der Masse hervorgekommen war, das machte ihn ihnen so teuer, und sie beteten ihn an. Er war nicht mehr, wie er sich anfangs gerühmt hatte, der Johannes eines kommenden Jesus, der Trommler eines kommenden Heroen, er war jetzt Jesus und Kriegsheld in einem. Sie beugten sich wollüstig zur Erde vor ihm, den das Wunder aus dem Nichts zum Herrscher gemacht hatte.
    Ich kannte das Wunder an der Quelle. Denn ich hatte ihm den Glauben an sich als göttliches Wunder gegeben. Ich wußte, wir, meine Frau und ich, würden nie auf der Seite des Schwertes sein; meine Frau, weil sie in ihrer Verstandesklarheit und Güte nie dort gewesen war, und ich, der ich ein paar Monate in Blut gewatet hatte, weil ich jetzt zu einer anderen Arbeit – und nicht ohne Erfolg – zurückgekehrt war. Man hat mich in der Gegend geliebt, und selbst, als es sehr gefährlich war, mich zu verbergen, haben mir überzeugte Anhänger des Götzen das Asyl nicht nur nicht verweigert, sondern freiwillig angeboten. Es ist die gleiche Art von Menschen gewesen, ich sage es ausdrücklich, die die fürchterlichen Grausamkeiten in Konzentrationslagern und unterirdischen Gefängniskellern an armen hilflosen Gefangenen verübt hat und die dann ihr Leben aufs Spiel setzte, um mich zu retten.
    Es ist mir damals zum erstenmal klargeworden, daß der Mensch etwas Fürchterliches ist, aber auch etwas Göttliches.
    Als die ersten Gerüchte zu uns kamen, man ›fahnde‹ nach mir, der ich doch täglich von zwei bis vier meine Sprechstunden hatte, der seine Steuern regelmäßig bezahlte, der ein Telefon, ein kleines Auto besaß, glaubte ich, es handle sich um eine Namensgleichheit. Hatte es doch zwei Oswald Schwarz gegeben, warum sollte es nicht zwei meines Namens geben?
    Ich traf aber Vorsorge, was die Papiere betraf. Ich hatte daran gedacht, sie Geheimrat von Kaiser als ›Geschäftspapiere‹ in verschlossenem Kuvert zu senden. Er hatte eine Unmenge ähnlicher Protokolle gesammelt, nur daß sie nicht gerade einen Gefreiten des Regiments List, A. H., angingen. Dann kam ich von dieser Idee ab. Er war alt, er konnte sterben, seine Frau würde die Papiere vernichten nach seinem Tode. Sie sollten nicht verlorengehen.
    Dachte ich also daran, sie zu veröffentlichen, der Welt, wenigstens dem Ausland, zu zeigen, wie der Übermensch, der Halbgott noch vor fünfzehn Jahren gewesen war, wie er sich damals der Wissenschaft, wie er sich dem völlig unbefangenen Augenzeugen klinisch dargestellt hatte? Nein, auch das wagte ich nicht. Nicht aus Angst vor den Folgen, über die ich mir nicht klar war, sondern aus Achtung vor dem ärztlichen Berufsgeheimnis. So hielt ich mich an das ungeschriebene Gesetz ärztlicher Ehre. Er kannte keine Ehre. Ich konnte ohne Ehre nicht leben.
    Meine Frau riet mir mit Tränen in den Augen, die Protokolle zu verbrennen. Nein, ich mochte mich auch dazu nicht entschließen. Ich wollte mir meinen Mut beweisen, indem ich sie behielt. Noch einmal und nicht zum letztenmal. Ich machte mich stark und führte die Tränen der armen Frau auf die Rührseligkeit zurück, die Frauen in der Hoffnung oft überfällt, und begnügte mich mit einer List, um die Papiere zu erhalten und mich doch nicht mit ihnen zu belasten. Ich sandte sie, mit einem anderen Namen als Absender, postlagernd an einen dritten Namen an ein Postamt in M. Auf der Post blieben solche Sendungen drei Monate unbeanstandet liegen, dann konnte ich hingehen, sie umadressieren und sie weitere drei Monate an einem anderen Postamt lagern lassen. Denn die Sache zweimal am gleichen Postamt zu tun, war gefährlich. Die Postbeamten waren fanatische Anhänger H.s. Aus freien

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