Ich & Emma
erkläre ich.
“Ich hab ihn zuerst gesehen, also heißt er Emma.”
“Wir können ihn nicht Emma nennen, das ist doch doof.”
“Ich nenne ihn so.”
“Ich nicht.”
In der folgenden Stille denkt sie offenbar darüber nach, was ein Name wert ist, den außer ihr niemand benutzt. Ich habe Zeit.
“Wie wäre es mit Toast?” fragt sie. Darüber muss ich mal eben nachdenken. Es ist ja auch kein richtiger Fluss, eher ein Bach, in dem das Wasser tröpfelt wie aus einem Wasserhahn.
Er ist nur so breit wie fünf dicke Bücher nebeneinander gelegt. Den Eimer kann man nur halb hineintauchen, dann stößt er schon auf Grund, aber er füllt sich schnell mit Wasser, also wird Mama sich freuen.
“Ich habe schon Blöderes gehört”, verkünde ich. “Aber wie wäre es mit Funkelnder Fluss?”
Während ich den Eimer fülle, klettert Emma auf den rutschigen Steinen einen Hügel hinauf. Wie auf dem Zaun breitet sie nicht mal die Arme aus, sie hält einfach so ihr Gleichgewicht.
“Du siehst aus wie eine Märchenfee.” Das stimmt wirklich. Diese Feen leben in Wäldern und krabbeln aus ihrem moosigen Feenreich hervor und tanzen in glitzernden Kleidern im Mondlicht. Gut, Emma trägt kein glitzerndes Kleid. Ihre Hose ist an einer Seite aufgerissen, seit sie damals bei Forsyth aufs Dach geklettert ist. Sie wollte beweisen, dass sie wie eine Katze runterspringen kann, als sie ausrutschte und zur Kante schlitterte, wo sie hing, bis Mr. Phillips seine Leiter holte. Ihr T-Shirt hat Flecken von Tomatensoße oder Sirup oder Beeren oder sonst was. Und ihr Haar ist hinten noch immer ganz verfilzt, wie eigentlich immer.
“Oder Diamantenfluss”, ruft sie mir zu. “Das ist es! Diamantenfluss. Das ist sein Name.”
“Wir müssen zurück, beeil dich”, sage ich, als der Eimer voll ist.
Sie springt von dem höchsten Felsen und läuft hinter mir her, der Weg scheint jetzt viel kürzer als vorhin.
“Eure Mama sucht euch”, knurrt Richard, als er uns zwischen den Bäumen auftauchen sieht. Wie Hunde schauen wir ihm nicht in die Augen. Ich und Emma, wir haben nicht darüber gesprochen, was im Hinterhof unseres alten Hauses passiert ist, aber wir wissen genau, wenn wir ihn ansehen, wird er womöglich wieder auf uns losgehen. Das ist Grund genug, ihm aus dem Weg zu gehen. Ich wünschte, ich könnte es irgendwie wieder gutmachen, so wie bei Mama, aber ich weiß nicht, über was Richard sich freuen würde. Heute war es der Ruf eines Falken, und ich glaube nicht, dass wir da noch einen draufsetzen können. Emma scheint sich darüber keine Gedanken zu machen, weil es ihr bisher sowieso nie genutzt hat, brav zu sein, aber ich weiß noch aus der Zeit, als Daddy lebte, dass es funktionieren kann.
“Caroline Louise Parker, komm sofort her”, rief Mama wütend. Ich folgte dem Klang ihrer Stimme und landete in der Mitte der Küche direkt vor Mama und Daddy.
“Ja, Ma’am?” Ich musste sie nur ansehen, und schon brannten Tränen in meinen Augen.
“Gibt es vielleicht etwas, das du uns gern sagen möchtest, Caroline?” fragte Daddy mit einer Stimme, die er sonst nie benutzte.
“Was denn, Daddy?” Ich versuchte, Zeit zu gewinnen. Ich begann zu weinen, in Mamas Gesicht rührte sich nichts, aber Daddy schmolz dahin.
“Deine Lehrerin hat angerufen”, sagte Mama. “Sie hat uns erzählt, was heute im Gemeinschaftskundeunterricht passiert ist …”
Mamas Stimme wurde härter und lauter, doch Daddy unterbrach sie. “Was ist passiert, Spätzchen? Warum hast du das gemacht?”
Die Wahrheit ist, ich weiß es nicht. Ich hatte die Erlaubnis, zur Toilette zu gehen. Wir malten gerade Bilder von den Indianern, die hier vor uns gelebt haben. Ich war die Einzige auf der Toilette, und plötzlich hatte ich es an der Hand.
“Das ist ekelhaft, abscheulich ist das”, sagte Mama. “Ich kann nicht glauben, dass ich ein Kind geboren habe, das so etwas tut. Ich weiß nicht, wie ich im Ort jemals wieder mein Gesicht zeigen kann, ohne rot vor Scham zu werden.”
Daddys Augen sahen genauso traurig aus wie meine, nur ohne die heißen Tränen.
“Ist das einfach irgendwie an deine Hand gekommen? Gab’s denn kein Toilettenpapier in der Nähe?” Daddy fragte, als ob er mich wirklich gerne verstehen würde.
Ich schüttelte den Kopf, doch schon in derselben Sekunde wünschte ich, ich hätte seiner Version der Geschichte zugestimmt. Die hätte zumindest irgendeinen Sinn ergeben. Ich hätte mein großes Geschäft gemacht und dann meine Hände an der Wand
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