Ich & Emma
zweimal hupt. Ich könnte wetten, dass es dort kein Nest gibt, ich mache mir keine Hoffnungen.
Mein Magen verkrampft sich. Mama wappnet sich für alles, was da kommen mag, denn sie sitzt jetzt ganz aufrecht in ihrem Sitz. Richard fährt langsamer, wir kriechen an Häusern vorbei, die immer kleiner und kleiner werden und immer weiter voneinander entfernt liegen. Bald sieht man nur noch auf Felsen oder Holzbretter aufgemalte Nummern vor schmutzigen Wegen, auf die kaum ein Auto passt. Schließlich halten wir vor einem Stück Holz mit der Nummer zweiundzwanzig. Emma wirft sich auf meine Seite, damit sie einen guten Ausblick hat.
“Da sind wir.” Mama lächelt fast. “Home sweet home.”
Dichtes Gestrüpp peitscht gegen das Auto. Alles, was ich bisher sagen kann, ist, dass es hier wirklich sehr grün ist. Wir trauen uns nicht, die Köpfe aus dem Fenster zu strecken, damit uns nicht die Augen ausgestochen werden. Die Bäume haben dicke Stämme wie die, von denen in Grimms Märchen immer erzählt wird. Um die Elfen ihren Reigen tanzen. Und dann sind da so viele Büsche und Äste, dass wir nicht mehr weiterfahren können – ein ganzer Baum liegt quer über dem Weg, als ob ein Riese ihn für einen Grashalm gehalten hätte – und so halten wir genau dort an. Es ist so eng, dass wir nur mit Mühe die Türen öffnen und aussteigen können. Als ich hoch schaue, kann ich den Himmel kaum erkennen, weil die Äste eine Art Dach bilden. Der Boden besteht aus Sand und Moos und Kiefernnadeln, es fühlt sich an, als würde man auf einem Trampolin stehen.
“Dann mal los.” Richard läuft um seinen Lastwagen. “Dann machen wir’s zu Fuß. Der Mensch sollte sowieso nie weiter verreisen, als er zu Fuß gehen kann.”
Emma nimmt einen Stapel Decken aus dem Wagen, ich schnappe mir einen Karton, und schon balancieren wir über Steine und Wurzeln und Nadeln zur Nummer zweiundzwanzig in der Turn River Road.
“Hört ihr das?” Richard bleibt stehen. “Wenn das mal kein Falke ist. Hört ihr das, Mädels?”
Ich höre überhaupt nichts außer dem Knacken der Äste unter unseren Schuhen, aber ich sage trotzdem ja. Emma auch.
Gerade als meine Arme vor Anstrengung zu zittern beginnen, höre ich direkt über meinem Kopf ein Pfeifen. Richard hat das Haus gefunden.
“Wow!” schreit er.
Die Bäume und Büsche machen dem Haus kaum Platz. Sie sehen aus, als würden sie nur darauf warten, dass es zusammenfällt, damit sie zurück auf ihre Plätze können. Meiner Einschätzung nach werden sie nicht lange warten müssen: Das Haus sieht aus, als würde es jeden Moment aufgeben. Das Dach hängt auf der einen Seite. Zu beiden Seiten der Tür gibt es jeweils ein Fenster, die allerdings aussehen wie aus Holz, so schmutzig sind sie. So wie ich meine Mama kenne, wird das ganz sicher unsere erste Aufgabe sein. “Putzt die Fenster, putzt die Fenster”, bekommen wir ständig zu hören.
Das durchgebogene Teil des Daches scheint auch nicht ganz dicht zu sein, das wird uns Richard eine Weile vom Halse halten. Die Tür schabt über den Boden, als Mama versucht, sie aufzustoßen. Schließlich muss sie sich mit einer Schulter dagegen lehnen, um sie weit genug zu öffnen, damit wir die Kisten hineintragen können. Richard lässt seine Sachen fallen und eilt zurück zu seinem Pick-up. Ich fürchte, uns wird letztlich auch nichts anderes übrig bleiben, aber ich kann es nicht erwarten, zu sehen, wo Emma und ich unser neues Nest bauen werden. Und falls es in dem Zimmer einen schöneren und einen hässlicheren Teil gibt, dann will ich den schöneren besetzen, bevor sie das tun kann. Ich bin ja nicht blöd.
Nachdem sich meine Augen an das trübe Licht gewöhnt haben, kann ich den Schmutz überall sehen – auf einem alten Holztisch mitten in dem Zimmer, in das wir als erstes kommen. Ich vermute, es ist das Wohnzimmer. Schmutz, an den Wänden und vor allem auf dem Boden. Überall auf dem Boden. Hier ist es schmutziger als vor dem Haus, Herrgott noch mal! Darunter gemischt sind Blätter und Kiefernnadeln, und ich frage mich schon, wie die hier reingekommen sind, bis ich nach oben sehe und ein großes Loch in der Decke entdecke, mehrere Vogelnester und einen abgebrochenen Ast, der offenbar für dieses Loch verantwortlich ist.
Mama ist ganz still. Sie hält ihren Karton umklammert, als wollte sie ihn nicht auf den schmutzigen Boden stellen. Keine Ahnung, was sie von unserem neuen Haus hält, das ja nun so neu nicht ist.
“Es ist hübsch hier”, sage ich.
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