Ich fühle was, was du nicht siehst - Mallery, S: Ich fühle was, was du nicht siehst
dann seine Mutter. Denise Hendrix hatte sechs Kinder großgezogen und den Verlust ihres Mannes Ralph überlebt, der vor beinahe einem Jahrzehnt gestorben war. Sie war vernünftig und lebenserfahren und würde ihm eine andere Sicht der Dinge eröffnen als seine eigene. Denn im Augenblick wollte er nur eines: seinen Sohn nehmen und mit ihm abhauen.
Kein sehr kluger Plan, sagte er sich, während er durch die vertraute Wohngegend fuhr und in die Auffahrt zu seinem Elternhaus einbog.
Er warf einen Blick auf die Uhr auf dem Armaturenbrett. Da alle ihre Kinder längst aus dem Haus waren, hatte seine Mutter mittlerweile viel Zeit. Zeit, die sie mit verschiedenen Kursen und Freunden verbrachte. Wenn Ethan es richtig in Erinnerung hatte, sollte seine Mutter jetzt eine Pause zwischen dem Fitnessstudio und irgendeiner Verabredung zum Mittagessen haben.
Er ging zur Haustür. Sie wurde geöffnet, ehe er anklopfen konnte.
„Ich habe dich kommen sehen”, sagte seine Mutter lächelnd. In ihrem T-Shirt und der weiten, kurzen Hose sah sie sehr sportlich aus. Sie trug keine Schuhe, und ihre Zehennägel leuchteten rosa. Früher hatte sie immer langes Haar gehabt, doch seit ein paar Jahren trug sie es kurz. Jedes Mal, wenn Ethan sie sah, schien es noch ein Stückchen kürzer zu sein. Jetzt reichte es ihr kaum noch über die Ohren.
„Hey, Mom.” Er beugte sich hinunter und küsste sie zur Begrüßung auf die Wange. „Lässt du dir nächstes Mal den Kopf kahl scheren?”
„Falls mir danach ist, ja”, erklärte sie und trat einen Schritt zurück, damit er hereinkommen konnte. „Ich treibe jetzt mehr Sport, und da sind die kurzen Haare praktischer. Heute hatte ich meinen Yoga-Kurs. Bei mir fehlt anscheinend das Gen für Flexibilität. Ich schwöre, die Stellungen, die ein paar der Frauen einnehmen können, sind ganz schön schwierig. Ich verbiege mich nach Kräften, aber ich habe immer Angst, dass ich mir irgendwann etwas breche. Weißt du, ich bin ja in diesem Alter, wo die Knochen morsch werden und man schrumpft.”
„Wohl kaum.”
Denise war Anfang fünfzig und sah mindestens zehn Jahre jünger aus. Trotz der vielen Jahre, in denen sie schon allein lebte, war sie in der ganzen Zeit nie mit einem Mann ausgegangen. Vom Kopf her wusste Ethan, dass es schön für sie wäre, wenn sie jemanden fände. In seiner Rolle als ältester Sohn und als derjenige, der für sie verantwortlich war, begeisterte ihn dieses Thema allerdings nicht unbedingt. Einen alten Knacker verprügeln zu müssen, weil er seiner Mutter Avancen machte, zählte nicht gerade zu seinen Wunschträumen.
„Lieb, dass du das sagst.” Sie betrachtete ihn einen Augenblick. Ihre dunklen Augen sahen meist mehr als andere Menschen. „Stimmt etwas nicht?”
„Vielleicht wollte ich dich einfach nur sehen.”
„Um diese Zeit? Mitten in der Woche? Das glaube ich kaum. Außerdem sehe ich doch, dass etwas nicht stimmt. Was ist los?”
Sie ging in die Küche, während sie redete, und Ethan folgte ihr automatisch. Alle wichtigen Dinge wurden in der Küche besprochen. Alle Geständnisse, alle freudigen Ereignisse und alle wichtigen Ankündigungen.
Sie schenkte sich und ihrem Sohn Kaffee ein, nahm dann ihre Tasse und lehnte sich an die Küchentheke.
Ihr Blick war aufmerksam, ihr Gesichtsausdruck neutral. Sie würde so lange warten, wie es nötig war. Als Teenager hatte Ethan ihre Geduld gehasst. Er hatte sich unter dem geduldigen Blick seiner Mutter gekrümmt und gewunden, bis er dann irgendwann doch gestand, was er ausgefressen hatte. Heute war er dankbar, dass sie nicht versuchte, ihn mit Small Talk abzulenken.
„Ich habe einen Sohn. Er heißt Tyler und ist elf.”
Seiner Mutter wäre beinahe ihre Kaffeetasse aus der Hand gefallen. Rasch stellte sie sie auf die Theke. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. Sie atmete einmal tief durch. Dann noch einmal.
„Liz Sutton ist wieder in Fool’s Gold”, fuhr er fort. „Ich habe sie gestern beim Rennen gesehen. Dann war ich bei ihr, und sie hat es mir gesagt.” Er vergrub seine Hände in den Taschen seiner Jeans. „Ich habe ihn noch nicht gesehen. Ich lerne ihn heute Abend kennen.”
„Liz Sutton? Du hast mit Liz Sutton geschlafen?”
„Das war vor langer Zeit, Mom.”
„Ich dachte, ich wüsste von allen deinen Freundinnen. Wann war das?”
Ehe er antworten konnte, runzelte sie die Stirn. „Wenn er elf ist, warst du noch auf dem College. Wir hatten dir damals für die Zeit, in der du zu Hause warst, die
Weitere Kostenlose Bücher