Ich gegen Dich
ihr die Schulter tätschelte und ihrem Gesicht kleine feuchte Patscher gab, als wäre sie ein Radio, das eingestellt werden müsste, oder ein Fernseher mit Empfangsstörung?
Mums Lösung bestand darin, sich zu verstecken. Aber wenn eine Achtjährige eine Fünfzehnjährige tröstete, bedeutete das, dass die Welt aus den Fugen geraten war. Und das musste geändert werden.
Er goss den Tee auf und brachte ihn rein, stellte ihn vor Karyn auf den Tisch. Sie hatte sich auf dem Sofa ein Nest gebaut. Andauernd machte sie das jetzt – sich in Kissen, Decken, Pullis vergraben.
Mikey ging zu ihr rüber und setzte sich auf die Kante.
Im Gegenlicht sah sie so traurig aus.
»Wahrscheinlich ist er schon draußen«, sagte sie. »Läuft einfach durch die Gegend und hat seinen Spaß.«
»Auf keinen Fall wird er in deine Nähe dürfen. Sie werden ihm verbieten, dir SMS zu schreiben oder mit dir zu reden oder sonst irgendwas. Wahrscheinlich kriegt er eine elektronische Fußfessel und kann nach Einbruch der Dunkelheit nicht raus.«
Sie nickte, wirkte aber unsicher. »In der Schule ist so ein Mädchen«, sagte sie. »Letztes Schuljahr hatte die sieben Freunde, und alle haben gesagt, dass sie 'ne Schlampe ist.«
Das schon wieder. »Du bist keine Schlampe, Karyn.«
»Und in meiner Klasse ist ein Junge, der hatte zehn Freundinnen. Weißt du, wie sie den nennen?«
Mikey schüttelte den Kopf.
»Einen Player.«
»Also da liegen sie völlig falsch.«
»Wie ist also die korrekte Bezeichnung?«
»Weiß ich nicht.«
Seufzend ließ sie sich auf das Sofa zurückfallen und starrte an die Decke. »Im Fernsehen hab ich so 'ne Sendung gesehen«, sagte sie. »Was mir passiert ist, passiert massenhaft Mädchen. Mas-sen-haft.«
Mikey inspizierte seine Nägel. Sie sahen alle ausgefranst aus. Hatte er daran geknabbert? Seit wann machte er das?
»Die meisten Mädchen zeigen es nicht an, weil nur die wenigsten Jungs verurteilt werden. Nur so was wie sechs Prozent. Das sind nicht besonders viele, oder?«
Mikey schüttelte wieder den Kopf, biss sich auf die Lippe.
»Als ich vorhin die Tür aufgemacht hab, waren da so'n paar Kids unten im Hof, und die haben mich alle angesehen. Wenn ich wieder zur Schule geh, werden mich auch alle anstarren.« Sie senkte den Blick, und er spürte, wie die Scham in Wellen von ihr ausströmte. »Sie werden mich so ansehen, als hätt ich's verdient. Tom Parker hat mich zu sich nach Hause eingeladen, und ich bin mitgegangen, wie kann also irgendwas seine Schuld sein?« Mit einer Hand strich sie sich die Haare aus dem Gesicht. »Das ist alles so widersinnig.«
Er wollte, dass sie aufhörte zu reden, hatte das zunehmend panische Gefühl, wenn sie nicht sofort still war, würde sie endlos weitermachen. Vielleicht würde sie sogar über die Nacht reden, in der es passiert war. Das hielt er nicht noch mal aus.
»Ich krall ihn mir für dich«, sagte er. Es kam laut raus und hörte sich sehr selbstsicher an.
»Wirklich?«
»Ja.«
Seltsam, wie sich Worte mit Bedeutung aufluden, sobald man sie laut ausgesprochen hatte. Drinnen im Kopf waren sie sicher und ruhig, aber kaum waren sie raus, ergriffen die Leute Besitz davon.
Sie setzte sich auf. »Was hast du vor?«
»Ich nehm ihn mir vor und schlag ihn zusammen.«
Karyn presste sich den Handrücken gegen die Stirn, als bekäme sie von der Vorstellung Kopfschmerzen. »Damit kommst du nie durch.«
Aber das plötzliche Leuchten in ihren Augen zeigte Mikey: Sie wollte, dass er das für sie machte. Er hatte es nicht getan, sollte es aber. Und wenn er es machte, würde ihr Schmerz aufhören.
In der Siedlung gab es einen Typen, dem keiner in die Quere kam. Er hatte das Moped seines Sohns zurückgekriegt, nachdem ein paar Kids es geklaut hatten. Er kannte Leute, die Leute kannten. Das war die Sorte Mann, die alle bewunderten. Wenn man dem was wollte, prallte man ab. Mikey hatte noch nie jemanden zusammengeschlagen, aber der Gedanke an den Typen flößte ihm Kraft ein. Siegessicher stand er auf. Diesmal würde er allein hingehen, Handschuhe mitnehmen und einen Kapuzenpulli tragen. Wenn er keine Fingerabdrücke hinterließ, konnte ihm nichts passieren.
Er ging in die Küche und zog den Werkzeugkasten unter der Spüle hervor. Schon allein den Schraubenschlüssel in die Hand zu nehmen verschaffte ihm Erleichterung – es hatte was damit zu tun, wie schwer der war, wie endgültig es sich anfühlte, ihn festzuhalten. Die Gefühle strömten in das Werkzeug. Als er seine Jacke
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