Ich glaub, ich lieb euch alle
mir meinen Gangsteranzug ruinieren, wenn ich nicht auf der Stelle eine Toilette finde. Ich stürme raus aus dem Theatertrakt, sprinte die Treppe hoch und den Flur runter. Ich hab die Befürchtung, es ist ein absolutes Tabu, mich in diesem Moment in meinem Kostüm außerhalb des Theaterbereiches zu befinden, aber ich würde es schon bevorzugen, die Schweren Jungs ohne einen flüssigen, dampfenden Haufen in der Hose zu spielen.
Die Schule ist wie ausgestorben und zum Glück trifft das auch auf die Jungstoilette zu. Und selbst wenn jetzt noch hundert Leute hier gewesen wären, wären die innerhalb kürzester Zeit verschwunden, sobald ich hier alles rauslasse! Und ich lasse alles raus. PUH! Das ist ja abartig! Und das war’s. Nichts mehr übrig im Tank, Captain; Sie haben jetzt eine Show zu meistern.
Auf dem Weg nach draußen werf ich einen Blick in den Spiegel, ich seh ein bisschen blass und zittrig aus und wegen der Dehydrierung haben meine Augen tiefe Schatten, aber, hey, ich sah noch nie so cool aus! Wie geil ist das denn. Ich bin bereit. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich keinerlei Zweifel an mir selbst. Ich hab viel zu hart gearbeitet, um jetzt womöglich einen Hänger zu kriegen und mich durch das Stück zu wursteln und alles zu vermasseln. Wobei keiner erstaunt wäre, wenn es so wär, denn » Ist ja nur Carter da oben, und Carter ist nun mal so«.
Nun, nicht heute Abend! Nicht dieser Carter hier; heute mach ich alles richtig. Ich werde ganz groß rauskommen. Ich kicke die Klotür auf, ganz der singende Gangster, der ich eben bin. Ich trete raus auf den Flur, als wär ich der übelste Draufgänger, den es an dieser Schule jemals gab, als ich plötzlich eine erschreckend vertraute Stimme höre. Und zwar nicht die Stimme Gottes, nicht meine eigene Stimme, sondern eine Stimme, die ich fast ebenso gut kenne wie meine eigene.
» Carter, was tust du denn hier?«, fragt EJ mich erstaunt.
Ich schau rüber zu den Jungs, von denen man wirklich als Allerletztes erwarten würde, dass man sie um 7:55 an einem Donnerstagabend in der Schule trifft. Acht absolut identische Baseballkappen, acht Mal der absolut identische Gesichtsausdruck: nämlich total verdattert. EJ, Bag, Doc, J-Low, Levi, Hormone, Nutt und Andre.
» Hey, Jungs, w-w-was macht ihr denn hier?«, frage ich im Vorbeigehen.
» Wir wollten uns nur überzeugen, ob es wirklich wahr ist«, meint Doc.
» Abby hat erzählt, dass du in der Frühjahrsvorstellung mitspielst, und wir haben sie für verrückt erklärt«, schiebt Bag hinterher.
» Wann hat sie euch das erzählt?«, will ich wissen.
» Ungefähr vor drei Wochen«, klärt EJ mich auf.
» Und warum habt ihr mich nicht danach gefragt?«
» Weil wir dich gar nicht mehr zu Gesicht kriegen, Alter«, meint Bag.
Ich glotz sie blöd an mit meinem zurückgeschleckten Haar, meinem Gangsteranzug und meinem Make-up, da erkundigt sich Nutt schließlich vollkommen ernst: » Und, spielst du nun mit oder nicht?«
Ich muss lachen. » Nein, du Vollidiot, ich zieh mich nur ganz gern ab und zu so komisch an und komm in die Schule, um ein wenig rumzuspacken.«
Meine Jungs lachen los, als hätten sie vergessen, weshalb wir hier alle so doof rumstehen. Hormone meint: » Miss Holly verteilt Extrapunkte an diejenigen, die sich dein Stück ansehen.«
» Du trägst also Make-up, was?«, stellt EJ fest.
» Jep«, sage ich, ohne auch nur das geringste Anzeichen von Scham zu zeigen.
Andre sieht aus, als müsste er ganz dringend aufs Klo, so wie er rumdruckst. Doch schließlich platzt es aus ihm raus: » Theaterspielen ist voll schwul!«
Ich nicke zustimmend und sage: » Ja, der war gut. Also, ihr geht jetzt besser auf eure Plätze. Die Show geht jeden Moment los.«
Als ich davongehe, höre ich sie hinter meinem Rücken schnattern wie ein Hühnerhaufen. Und es ist mir scheißegal. Ich kann es gar nicht glauben, aber es ist wirklich so. Das ist unglaublich. Zum ersten Mal in meinem Leben macht mir etwas nichts aus. Denn ich tu das hier nicht für sie oder für meine Familie oder für Miss McDougle, nicht einmal für Abby tu ich das hier. Heute Abend trete ich ausschließlich für eine Person raus da auf diese Bühne– und zwar für mich, für niemand sonst. Denn diese Person will ich tatsächlich sein. Nicht ein Schauspieler, ein Sänger oder ein Tänzer, sondern ein Typ, der tut, was er tun will, weil er es tun will. Wie schon früher werde ich in meinem Leben noch viele Dinge tun müssen, auf die ich keine Lust habe:
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