Ich habe den Todesengel überlebt - Mozes Kor, E: Ich habe den Todesengel überlebt
alt.
Und wir sahen Papa, Mama, Edit und Aliz nie wieder.
Erstes Kapitel
Miriam und ich waren eineiige Zwillinge, die jüngsten von vier Geschwistern. Hörte man meine älteren Schwestern neidvoll die Geschichte unserer Geburt erzählen, so wusste man sofort, dass wir beiden die Lieblinge der Familie waren. Was ist süßer, was niedlicher als eineiige Zwillingsmädchen?
Wir kamen am 31. Januar 1934 zur Welt, in dem kleinen Ort Portz im rumänischen Siebenbürgen, nahe der Grenze zu Ungarn. Seit unserer frühesten Kindheit liebte es unsere Mutter, uns mit identischen Kleidern auszustatten und riesige Schleifen in unsere Haare zu binden, damit die Leute sofort erkennen konnten, dass wir kleinen Leute Zwillinge waren. Sie setzte uns sogar zu Hause auf den Fenstersims; Passanten hielten uns dann für kostbare Puppen, nicht für lebendige Menschen.
Wir glichen einander so sehr, dass sie uns mit Kennzeichnungen versehen musste, um uns auseinanderzuhalten. Tanten, Onkel, Cousins oder Cousinen, die unseren Bauernhof besuchten, spielten gerne Ratespiele mit uns, sie versuchten herauszufinden, wer von uns wer war. »Welche von euch ist Miriam? Welche ist Eva?«, rätselte ein verwirrter Onkel augenzwinkernd. Meine Mutter lächelte, voller Stolz über ihre perfekten Püppchen, und unsere beiden älteren Schwestern stöhnten wahrscheinlich. Übrigens rieten die meisten Leute falsch.
Als wir älter wurden und zur Schule gingen, nutzten wir unsere Eigenschaft als Zwillinge, um andere hinters Licht zu führen, was für uns ein Riesenspaß war. Und wir machten uns, wann immer wir konnten, zunutze, dass wir etwas so Kostbares und Einzigartiges waren.
Obwohl Papa streng war und uns und unsere Mutter an die Gefahren übertriebener Eitelkeit erinnerte – er hob hervor, dass selbst die Bibel davor warnte –, legte Mama besonderen Wert auf unser Äußeres. Sie ließ eigens für uns Kleider schneidern, so wie es heute die Reichen bei Modedesignern machen lassen. Sie bestellte Stoffe in der Stadt, und wenn sie eintrafen, nahm sie Miriam und mich und unsere beiden älteren Schwestern, Edit und Aliz, ins benachbarte Dorf Szeplak zu einer Schneiderin mit. In deren Haus durften wir Mädchen sehnsuchtsvoll Magazine studieren, in denen Models, nach der neuesten Mode gekleidet, abgebildet waren. Doch war es unsere Mutter, welche die letzte Entscheidung bezüglich Schnitt und Farbe unserer Kleider traf; zu jener Zeit trugen Mädchen ja nur Kleider, nie Hosen oder Latzhosen wie die Jungen. Und immer wählte unsere Mutter weinrot, hellblau und rosa für uns. Nachdem die Schneiderin an uns Maß genommen hatte, vereinbarten wir einen Termin zur Anprobe, und wenn wir dann wieder kamen, waren die Kleider für uns fertig zum Anziehen. Der Schnitt und die Farbe beider Kleider war stets genau gleich, zwei Teile, die ein perfekt übereinstimmendes Paar ergaben.
Mochten andere Leute sich auch von unserem Aussehen als eineiige Zwillinge verwirren lassen, unser Vater konnte Miriam und mich aufgrund unserer Persönlichkeit auseinanderhalten. An der Art, wie ich mich bewegte, einer Geste, die ich machte, oder sobald ich den Mund zum Reden öffnete, war ihm klar, wer ich war. Obwohl meine Schwester als Erste auf die Welt gekommen war, war ich die Anführerin. Ich nahm auch kein Blatt vor den Mund. Und jedes Mal, wenn wir Papa um etwas bitten mussten, schickte meine älteste Schwester Edit mich vor.
Mein Vater, ein strenggläubiger Jude, hatte immer einen Jungen gewollt, denn damals konnte nur ein Sohn am öffentlichen Gottesdienst teilnehmen und das Kaddisch, das jüdische Totengebet, sprechen, wenn ein Mensch gestorben war. Papa aber hatte keinen Sohn, nur meine Schwestern und mich. Da ich die jüngere der beiden Zwillinge und sein letztes Kind war, schaute er mich oft an und sagte: »Du hättest ein Junge werden sollen.« Ich glaube, er wollte damit sagen, ich sei seine letzte Chance gewesen, einen Jungen zu bekommen. Mein Charakter untermauerte das unmittelbar: Ich war stark und mutig und sagte meine Meinung recht deutlich – genau, wie er sich wohl einen Sohn vorgestellt haben mag.
Während mich diese stärkere Persönlichkeit von den anderen abhob, hatte sie auch ihre Schattenseiten. Ich hatte das Gefühl, dass mein Vater alles an mir verkehrt fand; nichts, was ich tat, schien ihm zu gefallen. So manches Mal stritten und debattierten wir, wobei auch ich nicht bereit war nachzugeben. Für mich reichte es nicht als Antwort, dass mein Vater recht
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