Ich habe den Todesengel überlebt - Mozes Kor, E: Ich habe den Todesengel überlebt
Ruf eines Nachtvogels. Wenn wir ungefähr eine Stunde entlang der Gleise liefen, würden wir den sicheren Teil Rumäniens erreichen, das wussten wir. Als Papa das Tor am Rand unseres Grundstücks erreicht hatte, beugte er sich vor, entriegelte es und stieß es auf.
»Halt!«, rief eine Stimme. »Noch einen Schritt und ich schieße!«
Ein ungarischer Jungnazi richtete ein Gewehr auf uns. Mehrere junge Männer, sie trugen ungarische Nazi-Armbinden mit Hakenkreuzen und dazu Khakikappen, hatten unser Gehöft bewacht, sie hatten sich dort postiert, um sicherzustellen, dass wir nicht entkamen. Wie lange sie schon dort gestanden hatten, sei dahingestellt.
Wir waren nur sechs Juden. Wie konnten wir so wichtig sein? Ich umklammerte Miriams Hand und wagte nicht, die Soldaten anzuschauen, warf ihnen aber verstohlene Blicke von der Seite zu. Papa schloss das Tor, und die jungen Männer ließen uns schnurstracks zu unserem Haus zurückmarschieren.
Unsere einzige Chance zur Flucht hatte sich soeben zerschlagen.
Zweites Kapitel
Am 31. Januar 1944 wurden Miriam und ich zehn Jahre alt. An Familiengeburtstagen hatte Mama bisher immer einen Kuchen gebacken und den Tag zu einem fröhlichen und festlichen Ereignis gemacht. Miriam und ich jedoch konnten unseren zehnten Geburtstag nicht feiern. Mama war zu krank. Seit Oktober, unmittelbar nachdem die Jungnazis unsere Flucht verhindert hatten, war sie an Typhus erkrankt und den ganzen Winter über bettlägerig gewesen. Damals gab es keine einfachen Medikamente, wie sie heute in jeder Apotheke erhältlich sind, um fiebrige und andere krankheitsbedingte Beschwerden zu lindern. Wir machten uns Sorgen, ob Mama wieder genesen würde. Unsere Mutter war immer so stark und gesund gewesen.
Eine jüdische Frau aus einem Nachbardorf zog bei uns ein und kümmerte sich um unsere Mutter und den Haushalt. Edit, Aliz, Miriam und ich halfen mit, indem wir mehr Arbeiten als sonst auf dem Hof verrichteten. In dieser Zeit überwachten uns die nationalsozialistischen und ungarischen Behörden, aber wir standen nie unter Hausarrest und es wurde uns nie verboten, unser Haus zu verlassen. Vorerst schienen wir in Sicherheit zu sein. Wir besuchten sogar weiterhin die Schule, mit Ausnahme der seltenen Tage, an denen die Nazis es uns verboten. An solchen Tagen erhielten wir Unterricht zu Hause, wie unsere älteren Schwestern.
An einem Märzmorgen des Jahres, in dem wir zehn geworden waren, fand unsere relative Freiheit ein jähes Ende. Zwei ungarische Gendarmen tauchten in unserer Hofeinfahrt auf. Kurz darauf hämmerten sie an unsere Tür.
»Packen Sie Ihre Sachen! Suchen Sie alles zusammen. Sie werden zu einer Sammelstelle gebracht.« Das war keine Bitte; es war ein Befehl. »Sie haben zwei Stunden Zeit dafür.«
Mama hatte kaum genügend Kraft, das Bett zu verlassen. Papa und unsere älteren Schwestern trugen Essen, Bettzeug, Kleidung zusammen – alles, was ihnen als notwendig einfiel. Miriam und ich waren gleich gekleidet und nahmen zwei weitere Paare identischer Kleider mit.
Als die Polizisten uns aus unserem Haus holten, standen alle Bewohner von Portz an der einen Straße, die durch das Dorf führte, und schauten zu. Nachbarn kamen von ihren Höfen und reihten sich am Straßenrand auf. Unsere Klassenkameraden aus der Schule glotzten nur. Niemand versuchte die Gendarmen daran zu hindern, dass sie uns wegbrachten. Niemand sagte ein Wort.
Ich war nicht überrascht. Nachdem irgendwann jeder wusste, dass wir mitten in der Nacht hatten verschwinden wollen, hatten sich unsere Lebensbedingungen weiter verschlechtert; die Schikanen der Dorfbewohner und ihrer Kinder waren bedrohlicher und häufiger geworden.
Selbst Luci, Miriams und meine beste Freundin, stand still und stumm da, sie mied unseren Blick, als wir an ihrem Haus vorbeikamen. Sie sagte nicht, es tue ihr leid, und sie gab uns auch nichts zur Erinnerung auf unsere Reise mit. Kurz bevor wir an ihrem Haus vorüber waren, schaute ich sie an. Sie blickte zu Boden. Schweigend verließen wir, was seit jeher unser Zuhause gewesen war.
Man verfrachtete uns auf einen von Pferden gezogenen Planwagen. Die Polizisten brachten uns in eine Stadt namens S ˛ imleu Silvaniei, auf Deutsch Schomlenmarkt, ungefähr fünf Fahrstunden entfernt. Dort angekommen, wurden wir gezwungen, uns zusammen mit über siebentausend anderen Juden aus dem Gebiet unseres rumänischen Siebenbürgens in ein Getto zu begeben. Miriam und ich hatten noch nie so viele Menschen gesehen.
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