Ich habe mich verträumt
lächelte wieder, da der Gedanke mir selbst gut gefiel – es war wie in alten Zeiten –, und diesmal erwiderte Nat mein Lächeln.
„Wie heißt er denn?“, wollte sie wissen.
Ich zögerte nur einen winzigen Moment. „Wyatt“, antwortete ich dann in Erinnerung an meine Reifenpannenfantasie. „Er ist Arzt.“
2. KAPITEL
U nnötig zu erwähnen, dass der Rest des Abends für alle Beteiligten besser verlief. Natalie zog mich zurück zum Tisch, an dem unsere Familie saß, und bestand darauf, dass ich noch bliebe, da sie vorher viel zu nervös gewesen war, um überhaupt mit mir zu sprechen.
„Grace ist mit jemandem zusammen!“, verkündete sie mit glänzenden Augen. Margaret, die gerade mehr oder weniger begeistert Mémés Ausführungen über ihre Nasenpolypen lauschte, sah sofort zu mir hoch. Mom und Dad unterbrachen ihr Gezänk und bombardierten mich mit Fragen, aber ich beschwichtigte sie erst einmal mit meiner „Es ist noch zu früh, um darüber zu reden“-Version. Margaret hob eine Augenbraue, sagte jedoch nichts. Aus dem Augenwinkel hielt ich Ausschau nach Andrew – er und Natalie hielten schon den ganzen Abend aus Rücksicht auf meine Gefühle Abstand voneinander –, konnte ihn aber nicht entdecken.
„Und womit verdient dieser Jemand seinen Lebensunterhalt?“, wollte Mémé wissen. „Er ist doch wohl keiner von diesen verarmten Lehrern, wie ich hoffe. Deine Schwestern haben es geschafft, gut bezahlte Arbeit zu finden, Grace. Ich weiß nicht, warum du das nicht kannst.“
„Er ist Arzt“, antwortete ich und nahm einen großen Schluck Gin Tonic, den der Kellner gerade vorbeigebracht hatte.
„Was für ein Arzt, Schnups?“, fragte Dad nach.
„Kinderarzt. Chirurg“, erwiderte ich, ohne zu zögern. Und noch ein Schluck. Hoffentlich würden sie die Röte meiner Wangen meinem Cocktail zuschreiben und nicht meinem Lügen.
„Wie schön“, seufzte Nat und lächelte engelsgleich. „Ach, Grace!“
„Wunderbar“, sagte auch Dad. „Halt ihn fest, Grace.“
„Sie muss niemanden festhalten, Jim“, schalt Mom umgehend. „Also wirklich, du bist doch ihr Vater! Warum redest du ihr solchen Schwachsinn ein?“ Und schon steckten die beidenim nächsten Streit. Wie gut, dass sie sich wenigstens um die arme Grace keine Sorgen mehr machen mussten!
Unter dem Vorwand, mein Handy vergessen zu haben und dringend meinen wunderbaren Arztfreund anrufen zu wollen, nahm ich bald darauf ein Taxi nach Hause. Es gelang mir auch, einen direkten Wortwechsel mit Andrew zu vermeiden. Das Thema Natalie und Andrew schob ich in guter Scarlett-O’Hara-Manier einfach beiseite – Morgen will ich über all das nachdenken – und konzentrierte mich stattdessen auf meinen neuen erfundenen Freund. Wie gut, dass mir vor ein paar Wochen der Reifen geplatzt war, sonst hätte ich diese Nummer nicht so schnell aus dem Ärmel ziehen können.
Wie schön wäre es gewesen, wenn es Wyatt, den Kinderchirurgen, in echt gäbe! Erst recht, wenn er auch ein guter Tänzer wäre, und sei es nur mit einem einfachen Foxtrott-Grundschritt. Wenn er Mémé hätte bezirzen und Mom über ihre Skulpturen befragen können, ohne bei der Beschreibung peinlich berührt zusammenzuzucken. Wenn er, wie Stuart, ein Golfer gewesen wäre und die beiden sich morgens auf dem Golfplatz verabredet hätten. Wenn er zufällig ein bisschen über den Bürgerkrieg gewusst hätte. Wenn er gelegentlich mitten im Satz innegehalten hätte, weil ihm bei meinem Anblick spontan entfallen wäre, was er hatte sagen wollen. Wenn er hier gewesen wäre, um mich nach oben ins Schlafzimmer zu führen, mir das unbequeme Kleid auszuziehen und mich kräftig durchzuvögeln.
Das Taxi bog in meine Straße und hielt an. Ich bezahlte den Fahrer, stieg aus und stand eine Minute lang nur da, um mein Haus zu betrachten. Es war ein kleines, dreistöckiges Häuschen im viktorianischen Stil, schmal und hoch. Ein paar wackere Narzissen standen am Wegesrand, und bald würden die Tulpenbeete in roter und gelber Pracht erblühen. Im Mai würden die Fliederbüsche an der Ostseite das ganze Haus mit ihrem unvergleichlichen Duft erfüllen. Die meiste Zeit des Sommers würde ich auf der Veranda verbringen, lesen, Artikel für diverse Fachzeitschriften schreiben und meine Farne und Begonien gießen. MeinZuhause. Als ich es gekauft hatte – ich korrigiere: Als Andrew und ich es gekauft hatten –, war es heruntergekommen und vernachlässigt gewesen. Jetzt war es eine Sehenswürdigkeit. Meine
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