Ich habe mich verträumt
Schoßes vordringen? “
„Ich finde, er sollte es tun.“
Ich fuhr zusammen und ließ das kitschige Taschenbuch fallen. Callahan O’Shea stand in der Tür, und der Raum wirkte plötzlich nur halb so groß. „Hey, Ire! Was machen Sie denn hier?“, fragte ich ihn.
„Viel interessanter wäre die Frage, was Sie hier machen.“
„Ich lese Mr Lawrence etwas vor. Es gefällt ihm.“ Hoffentlich beendete Mr Lawrence nicht ausgerechnet jetzt sein jahrelanges Schweigen und widersprach. „Und er ist nur einer von vielen Bewohnern dieses Heims, denen ich vorlese.“
„Ach, tatsächlich? Er ist außerdem mein Großvater“, sagte Callahan und verschränkte die Arme.
Ich war überrascht. „Das ist Ihr Großvater?“ „Ja.“
„Oh. Tja, ich … lese den Leuten hier manchmal etwas vor.“ „Allen?“
„Nein, nur denen, die …“ Ich brach ab.
„… die keinen Besuch bekommen“, beendete Callahan den Satz.
„Genau.“
Mit meinem kleinen Leseprogramm hatte ich begonnen, als Mémé vor etwa vier Jahren hier einzog. Besuch zu bekommen war für die Bewohner von Golden Meadows eine Art Statussymbol, und eines Tages war ich zufällig in diesen Bereich des Hauses geraten – den gesicherten Bereich – und hatte entdeckt, dass sehr viele der Patienten vereinsamt waren, weil ihre Familien zu weit entfernt wohnten oder die trübselige Atmosphäre hier nicht ertrugen. Also fing ich an, ihnen vorzulesen. Gut, Lord Bartons Begehren war kein Klassiker – zumindest nicht nach literarischem Standard –, aber es schien die Aufmerksamkeit meiner Hörer zu fesseln. Mrs Kim in Zimmer 39 hatte tatsächlich geweint, als Lord Barton seiner Clarissia endlich einen Heiratsantrag machte.
Callahan stieß sich vom Türrahmen ab und trat ins Zimmer. „Hallo Pop“, sagte er und gab dem alten Mann einen Kuss aufs Haar. Mr Lawrence reagierte nicht. Meine Augen brannten ein wenig, als Callahan den gebrechlichen alten Mann ansah, der wie immer ordentlich in Hose und Strickjacke gekleidet war.
„Tja, dann lasse ich Sie beide mal allein.“ Ich stand auf.
„Grace.“
„Ja?“
„Danke, dass Sie ihn besuchen.“ Er zögerte, dann lächelte er mich an, und mir ging das Herz auf. „Früher hat er gern Biografien gelesen.“
„Also gut“, meinte ich. „Meiner Meinung nach sind der Graf und die Hure zwar weitaus belebender, aber wenn Sie das sagen …“ Ich hielt inne. „Standen Sie sich nahe?“, fragte ich, ohne groß nachzudenken.
„Ja“, sagte Callahan. Sein Gesichtsausdruck war unlesbar, seine Augen ruhten auf seinem Großvater, der wieder anfing, an seinem Pullover zu zupfen. Callahan legte eine Hand über die des alten Mannes, um die nervöse Bewegung zu unterbrechen. „Er hat uns großgezogen. Meinen Bruder und mich.“
Ich zögerte, da ich nicht unhöflich sein wollte, doch dann siegte die Neugier. „Was ist mit Ihren Eltern passiert?“
„Meine Mutter starb, als ich acht war“, antwortete er. „Meinen Vater habe ich nie gesehen.“
„Das tut mir leid.“ Er nickte kurz. „Was ist mit Ihrem Bruder? Wohnt der auch in der Nähe?“
Callahans Gesicht versteinerte. „Ich glaube, er ist irgendwo im Westen. Wir haben … uns entfremdet. Hier bin nur ich.“ Als er seinen Großvater ansah, wurde sein Blick wieder weich.
Ich schluckte. Meine eigene Familie kam mir plötzlich ganz wunderbar vor, auch wenn Mom und Dad ständig stritten und Mémé alles kritisierte. Meine Tanten und Onkel, selbst meine blöde Cousine Kitty … und natürlich meine Schwestern – ich liebte sie alle von ganzem Herzen und konnte mir nicht vorstellen, dass wir uns jemals entfremdeten.
„Das tut mir leid“, wiederholte ich beinahe flüsternd.
Callahan sah mich an, dann lachte er auf. „Ich hatte trotzdem eine relativ normale Kindheit. Ich habe Baseball gespielt, bin zelten gegangen, Fliegenfischen … Der übliche Jungenskram.“
„Das ist gut“, sagte ich. Meine Wangen brannten. Der Klang seines Lachens schien in meinem Brustkorb nachzuhallen. Es war nicht zu leugnen. Ich fand Callahan O’Shea definitiv zu attraktiv.
„Also, wie oft kommen Sie her?“, wollte Callahan wissen.
„Ach, normalerweise ein oder zwei Mal die Woche. Ich gebe Tanzunterricht, zusammen mit meinem Freund Julian, jeden Montag von halb acht bis neun.“ Ich lächelte. Vielleicht käme er ja mal vorbei und sähe, wie ich in meinem wirbelnden Rock die alten Herrschaften begeisterte. Vielleicht …
„Tanzunterricht, so, so“, sagte er da. „Danach
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