Ich haette dich geliebt
Kampen, Kai, das tote Mädchen.
Immer wieder versuchte ich mir vorzustellen, was Louis Kampen mir noch zu sagen hatte. Dann ärgerte ich mich über das Gespräch mit Kai. Ich hätte wacher und witziger reagieren müssen. Es störte mich, dass er gesehen hatte, wie unglücklich ich war. Dann wiederum schämte ich mich, so selbstbezogen zu sein. Ein kleines Mädchen war verhungert, fast nebenan. War vielleicht nie oder nur falsch geliebt worden, und ich jammerte über meine vermasselte Beziehung.
4. Das Spiegelei
Am Montag war ich um sieben wach. Ein Tsunami an Gedanken und Gefühlen tobte in mir. Ich haderte mit meiner Entscheidung, mir den Brief zu holen und Dinge zu erfahren, die ich vielleicht nicht wissen wollte. Um nicht vor Unruhe irgendetwas zu zerschlagen, stand ich auf und zog mich warm an. Morgens konnte es frisch sein. Auch im Juni. Meine gewohnte Laufstrecke war leergefegt. Es fuhren nur ein paar Leute zur Arbeit. Niemand war zu Fuß unterwegs. Das Durchatmen tat gut.
Während ich vor mich hintrabte, versuchte ich mir vorzustellen, wie meine Mutter sich gefühlt hatte. So ganz ohne einen Mann an ihrer Seite. Wie musste es gewesen sein, jahrzehntelang in einem Bett zu schlafen, ohne sich ein einziges mal an jemandes Rücken zu kuscheln. Was wusste ich über ihre Sehnsüchte – warum hatte mich das so wenig interessiert?
Mit einem Handtuch-Turban auf den frisch gewaschenen Haaren stand ich ratlos vor meinem Kleiderschrank. Ich wusste nicht, was ich anziehen sollte. Nach dem Tod meiner Mutter war es selbstverständlich gewesen, mich dunkel zu kleiden. Die Trauer hatte mich fest im Griff. Und ich konnte mir nicht vorstellen, wie ein bunter Vogel umherzulaufen. Meine gewohnte Kleidung erschien mir nicht angebracht. Ich kaufte mir ein paar schwarze Hosen und Pullis. Kai lachte, wenn er mich sah, weil mir in seinen Augen nur eine Brille fehlte, um vollends wie eine Philosophiestudentin auszusehen. Er wollte mich aufheitern, doch ich verzog keine Miene. Ich wollte ihn bestrafen, weil er trotz meines schweren Schicksals noch lachen konnte. Sofort verdrängte ich den Gedanken daran, wie selbstgerecht ich ihm gegenüber gewesen war.
Ich entschied mich für meine Lieblings-Jeans und ein schwarzes T-Shirt. Das war meine Uniform. Auf gewisse Weise fühlte ich mich damit sicher. Louis Kampen würde kaum noch Wert auf meine Kleidung legen. Außerdem erforderte Trauerkleidung ein Mindestmaß an Nähe und echter Traurigkeit. Ich war nicht traurig. Verwirrt, dass es ihn gegeben hatte. Aber nicht traurig, weil er tot war.
Willy hatte sich bis jetzt nicht gemeldet. Ich schrieb ihm eine SMS, dass ich jetzt doch zur Beerdigung fuhr. Er antwortete fast simultan und wünschte mir viel Glück. Ich fragte mich, ob man jemandem bei so was „viel Glück“ wünschte. Er bemühte sich eben.
Es war zwar noch viel zu früh, aber ich musste losfahren. Ich hatte keine Muße mehr in der Wohnung von einem Bein auf das andere zu treten. Ich ignorierte das leichte Hungergefühl. Die Aufregung war zu groß und an Essen nicht zu denken. Im Auto fühlte ich mich sofort wohler. Das Radio sprang in einer schrecklichen Lautstärke an. Die Boxen krächzten und das Electric Light Orchestra schmetterte: Don't bring me down! Down, down, down, down, down.
Im Auto war alles etwas besser. Die Aufregung ließ nach. Ich war in Bewegung. Autofahren hieß Bewegung. Ich summte automatisch mit. Thema Nummer eins war das verhungerte Mädchen. In den Nachrichten kam jetzt erstmals das Jugendamt zu Wort. Ein junger Mann sprach davon, dass die Kleine beim letzten Hausbesuch zwar krank gewirkt habe, aber die Mutter das auf eine Grippe geschoben hätte. Die Wohnung sei in einem ordentlichen Zustand gewesen. Dann tönte der Bürgermeister wieder etwas von Aufklärung und gerechter Strafe. Mich schüttelte es. Das war Material für einen, der sich profilieren wollte. Alle an die Wand und erschießen. Genauso klang das.
Ich nahm den kürzesten Weg aus der Stadt hinaus auf die Bundesstraße. Die Sonne schien gleißend hell und hatte die morgendliche Kühle vertrieben. Ich musste die Fensterscheiben runterkurbeln, um ein bisschen frischen Fahrtwind abzubekommen. Dass der Polo keine Klimaanlage hatte, störte mich am wenigsten. Von zu starken Temperaturunterschieden bekam ich Halsweh. Die Strecke war einfach. Ich ließ die Autobahn aus und fuhr über Land. Zeit hatte ich mehr als genug.
Mein Rücken war klatschnass und klebte am Autositz, als ich ein Schild
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