Ich kann dich sehen: Thriller (German Edition)
nicht ins Krankenhaus«, sagte Liv zu ihr.
»Sie haben wahrscheinlich eine Gehirnerschütterung, außerdem muss Ihre Hand geröntgt werden.«
Liv rappelte sich auf. »Nein, hören Sie, es geht mir gut.« Doch in Wahrheit ging es ihr nicht besonders. Ihr Gesicht wurde heiß, sie wollte aussteigen und versuchte, ihr Gleichgewicht zu halten.
Die Sanitäterin schob ihre Hand unter ihren Ellenbogen. »Hören Sie, Livia. Ich bringe jetzt meine Sachen in den Krankenwagen, und in der Zeit sollten Sie sich ernsthaft überlegen, ob Sie nicht doch ins Krankenhaus gehen.«
Der junge Beamte kam um den Wagen herum, sammelte ihre Sachen auf und legte sie in eine große weiße Tüte. An der Einfahrt hatten sich ein paar Schaulustige versammelt. Jemand mit einem Aktenkoffer, ein paar Teenager mit eingefallenen Schultern, ein untersetzter Mann. Liv holte tief Luft, als Daniel zu ihr zurückkam.
»Wo ist das Problem?«
»Es gibt kein Problem. Ich will einfach nur nach Hause.«
Er nickte, als hätte sie eine tolle Idee gehabt. »Als ich Sie gefunden habe, waren Sie bewusstlos. Sie sollten sich untersuchen lassen.«
Liv sah aus dem Augenwinkel die Schwellung an ihrer Wange. Er hatte recht, sie sollte zum Arzt gehen. Nur das Krankenhaus war das Problem. Sie hob ihr Kinn und sah ihm in die Augen.
Er ignorierte ihren Blick. »Jemand hat Sie heute Nacht angegriffen, Livia. Sie dürfen nicht zulassen, dass Ihr Angreifer noch mehr Schaden anrichtet, nur weil Sie sich nicht untersuchen lassen wollen. Sie müssen noch ein Weilchen durchhalten. Schaffen Sie das?«
Er klang wie ihr Vater. Und das bewog sie, ihre Meinung zu ändern. »Ja.«
»Wunderbar. Können Sie laufen?«
Er wich ihr nicht von der Seite, als sie auf wackeligen Beinen zum Krankenwagen ging. Ihr Kopf fühlte sich furchtbar an, sie konnte sich kaum aufrecht halten, trotzdem schaffte sie es alleine in den Krankenwagen und gab dann Daniel seine Anzugjacke zurück. Er kramte nach seiner Visitenkarte. Sie wusste nicht, wo sie sie hinstecken sollte, und umklammerte sie schließlich mit der unverletzten Hand.
Liv hatte offensichtlich Glück gehabt. Es war ein ruhiger Montagabend in der Notaufnahme.
Sie saß in einem Gang, eine Decke über ihre zerrissenen Kleider gebreitet, neben ihr warteten Patienten, die nicht so schwer verletzt waren, dass sie sofort behandelt werden mussten. Die Frau neben ihr hielt ein blasses, schlafendes Kind im Arm. Der Mann ihr gegenüber presste ein blutverschmiertes T-Shirt gegen seinen Kopf. Eine Uhr an der Wand zeigte zehn vor acht an. Zu spät für einen Rückzieher. Vielleicht kam sie rein und gleich wieder raus, noch bevor irgendjemand auf sie aufmerksam wurde und einen Anruf tätigte. Es ging ihr so weit ganz gut.
Liv, du bist überfallen worden!
Ein Arzt, der altersmäßig wunderbar zum Polizisten im Parkhaus gepasst hätte, schickte sie zum Röntgen, wo nur bestätigt wurde, was Liv die ganze Zeit geahnt hatte: lediglich ein paar Prellungen an der linken Gesichtshälfte, keine Gehirnerschütterung und eine klassische Boxerverletzung an der rechten Hand – ein Bruch des zweiten Mittelfingerknöchels. Ihr gebrochener Finger wurde geklebt und der Arm in eine Schlinge gelegt; dann erhielt sie noch ein Rezept für Schmerzmittel mit der Wegbeschreibung zur Krankenhausapotheke.
Man hatte ihr einen Kittel gegeben, der ihre Unterwäsche verbarg, ihre völlig zerfetzte Jacke ließ sie im Untersuchungszimmer zurück, als sie sich auf wackeligen Beinen und nahezu blind von der Schwellung, die sich auf ihrer linken Gesichtshälfte auszubreiten begann, selbstbewusst auf acht Zentimeter hohen Absätzen auf den Weg machte. In der Apotheke musste sie wieder warten, sie setzte sich auf einen Stuhl und dachte an ihren Dad. Gerne hätte sie an seinem alten Küchentisch gesessen und eine Weile seiner brüchigen Stimme gelauscht, doch leider ging das nicht, denn er war ebenfalls in diesem Krankenhaus, nur auf einer anderen Station, und es ging ihm schlechter als ihr. Und bestimmt würde es ihm nicht besser gehen, wenn sie ihn heute Abend in diesem Zustand besuchte. Wieder stiegen Tränen in ihre Augen, als sie an seine Stimme dachte. Nicht aufgeben, Liv, sagte er immer, er kannte nichts anderes. Dazu sind wir geschaffen worden, Liv. Er hatte es sein ganzes Leben so gehalten. Sie nur ein Jahr lang.
Okay, Dad. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen, dann ging ihr gegenüber die Aufzugtür auf, ihr zukünftiger Exmann trat heraus, und sie überlegte,
Weitere Kostenlose Bücher