Ich kann dich sehen: Thriller (German Edition)
seinen Griff.
Hätte sie klar denken können, hätte sie sich vielleicht befreit und wäre um ihr Leben gerannt. Doch sie hatte aufgehört zu denken. Sie rannte nicht um ihr Leben. Sie rammte ihm einfach nur die geballte Faust in den Bauch. Es war ein guter, solider Faustschlag mit der Hand, in der sie den Schlüssel hielt, der ihn einen Schritt zurückweichen ließ.
Wieder eine Chance loszurennen – doch ein entschlossenes, wütendes Glühen hatte sie jetzt gepackt. Mit einer Kraft, die sie längst verloren glaubte, verpasste sie ihm einen zweiten Schlag in die Rippen. Er stöhnte auf. Sie kickte den Stöckelschuh von ihren Füßen, hob wie ein Boxer die Fäuste, und als er den Kopf hob, verpasste sie ihm einen rechten Haken mitten ins Gesicht.
Schmerz durchfuhr ihre Hand, er taumelte zurück. Erst da fiel ihr seine Kleidung auf. Er trug schwarze Klamotten, schwarze Handschuhe und eine schwarze Wollmütze. Das war kein spontaner Überfall. Er hatte ihn geplant. Sich eigens dafür vermummt. Er hatte in der Dunkelheit auf sie gewartet.
»Du Schwein!«, schrie sie und stürzte sich auf ihn.
Doch diesmal war er darauf vorbereitet und schlug mit der Faust zurück. Nicht so sehr der Schmerz, das Geräusch des Schlages betäubte sie. Sie wurde gegen das Auto geschleudert. Dann schlug er sie, ohrfeigte sie, packte sie, stieß sie gegen den Wagen und zerrte an ihren Kleidern. Sie konnte ihre Hände nicht schützend vor ihr Gesicht halten. Er keuchte schwer unter seiner Wollmütze, sein Schweißgeruch stieg ihr in die Nase. Sie wandte den Kopf ab, atmete tief ein und schrie.
Sie sah das Autodach erst, als sie darauf knallte, und hörte nur das Knacken in ihrem Nacken, als ihr Kopf seitlich aufschlug, spürte das kalte Blech an ihrer Wange …
2
Liv lag auf irgendetwas Hartem und Kaltem. Der Geruch von Gummi und Auspuffgasen stieg in ihre Nase. Ihr Gesicht schmerzte. Ihre Hand auch. Irgendjemand nannte ihren Namen.
Sie blinzelte vorsichtig, spähte durch das Haar vor ihren Augen, registrierte, dass sie auf dem Asphalt lag und auf die Unterseite eines Wagens blickte. Es hätte ihr Auto sein können. Doch nur anhand der Räder und Auspuffgase war das schwer zu sagen.
Eine warme Hand berührte ihren Arm, sie schreckte hoch. Vor ihren Augen verschwamm alles, ihr war schwindelig, das Licht düster, trotzdem erkannte sie die Umrisse eines Mannes, der neben ihr kniete. Gott, der war ja riesig!
Wieder flammte ihr Kampfgeist auf. Sie rollte sich auf die Seite und stieß ihm ein Knie in die Rippen. Er wankte, fing sich aber wieder, sie kroch unterdessen zurück, schrammte mit nackten Füßen und Händen über den Boden, bis sie mit dem Rücken an einen Reifen stieß. Sie drohte ihm mit der Faust. »Kommen Sie ja nicht näher.«
Er erhob die Hände zu einer friedlichen Geste und sagte irgendwas. Doch sie verstand ihn nicht und fragte sich, ob er überhaupt Englisch sprach. Sein dunkles Haar war so kurz geschnitten, dass es fast stoppelig wirkte, seine Augen glichen schwarzen Löchern in seinem Gesicht.
Er sprach wieder zu ihr. Sie versuchte sich zu konzentrieren.
»… Daniel Beck. Ich arbeite unten im Büro.«
Wer? Was? Ihre Brust hob sich. Ihre Hand schmerzte.
»Livia?« Er trug ein hellblaues Hemd und eine gestreifte Krawatte. Immerhin, er trug eine Krawatte. Und er kannte ihren Namen.
Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ja.«
»Sind Sie verletzt?«
Sie wusste es nicht, konnte es nicht sagen. Ihre Hand war noch immer in Abwehr erhoben, doch jetzt zitterte sie. Sie betastete ihre Unterlippe, spürte etwas Feuchtes, Klebriges. Die schmerzende Hand drückte gegen den Reifen hinter ihr, und als sie sie bewegte, schoss ein brennender Schmerz durch ihren Mittelfinger. Sie sah kurz darauf und hielt ihn dann dem großen Mann hin. »Ich habe mir den Finger gebrochen.«
Der Finger wirkte unförmig und schwoll langsam an. Er sagte nichts, sondern nahm sein Jackett und legte es über ihre Beine. Verdammt! Ihr Rock war bis zu den Oberschenkeln aufgerissen, ihre gespreizten Beine nackt. Wenigstens trug sie noch ihren Slip. Der schwarze Mann war nicht so weit vorgedrungen.
»Ich rufe einen Krankenwagen«, sagte er.
»Ich habe mir wohl den Finger an seinem Wangenknochen gebrochen.«
Er zog ein Handy aus seiner Hemdtasche und tippte eine Nummer. »Sie hatten Glück. Es hätte schlimmer kommen können.«
»Das war ein guter rechter Haken.«
Er sah sie an.
»Ich habe ihn geschlagen. Hier, hier und hier.« Sie
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