Ich kann dich sehen: Thriller (German Edition)
warum alles so verdammt hart sein musste.
Eine Welle der Erleichterung ergriff sie, vielleicht, weil sie nach dieser schrecklichen Nacht sein vertrautes Gesicht sah. Doch einen Augenblick später waren Schmerz, Ärger und Demütigung, die sie stets empfand, wenn sie ihn sah, wieder da. Sie stand auf und versuchte, sich an einen der kämpferischen Sätze ihres Vaters zu erinnern, als Thomas auf sie zukam.
Er schien schlanker geworden zu sein, auch das Grau an seinen Schläfen war verschwunden. Die Sechsundzwanzigjährige, mit der er jetzt sein Bett teilte, machte wohl ihren Einfluss geltend. Liv spürte die Verletzung in ihrem Gesicht, sie fühlte sich alt, hässlich und hilflos.
»Meine Güte, Liv, was ist passiert?«, fragte er, versuchte aber nicht sie zu berühren, sondern neigte sich lediglich nach vorn, um sich die Verletzungen anzusehen. Er versuchte ein betroffenes Gesicht zu machen, doch es wirkte gekünstelt und peinlich – so wie immer in letzter Zeit.
Sie wandte ihre zerschundene Gesichtshälfte ab. »Na ja, ich hätte es beinahe geschafft, dir hier aus dem Weg zu gehen. Woher wusstest du, dass ich hier bin?«
»Phil Dawson hat mich angerufen. Er wurde in die Notaufnahme gerufen und hat deinen Namen gesehen. Ich bin sofort runtergekommen, als ich es gehört habe.«
Und dafür sollte sie ihm dankbar sein? »Phil Dawson hat mich gar nicht behandelt. Er hätte dich also nicht anrufen dürfen.«
»Ja, du hast natürlich recht, er hat mich aber angerufen, und jetzt bin ich hier. Was ist passiert?«
Sie hätte ihm am liebsten gesagt, dass ihn das nichts anging, hatte aber nicht die Kraft, mit ihm zu streiten. »Ich bin auf dem Parkplatz bei meiner Arbeit überfallen worden.«
»Hat man dich ausgeraubt?«
»Nein. Der Kerl hat nichts genommen.«
»Geht es dir gut?«
Sie sah ihn ungläubig an. »Thomas, wie zum Teufel sehe ich denn aus?«
Er presste die Lippen zusammen. »Ich meine, die Schlinge. Hast du dir den Arm gebrochen?«
»Ich habe mir den Finger gebrochen und ein paar Prellungen und will einfach nur hier raus, würdest du mich also entschuldigen …« Sie griff nach dem Plastikbeutel mit ihren persönlichen Sachen.
»Gib mir das. Ich fahre dich nach Hause.« Er streckte seine Hand aus und wollte danach greifen.
»Nein.« Sie zog ihn weg. Mit Thomas fuhr sie nirgendwohin. Sie würde nicht in ihr ehemaliges Familienauto steigen und sich seinen Kommentar über das Reihenhaus anhören, das sie sich von ihrem Anteil gekauft hatte, nachdem die Scheidung beschlossene Sache gewesen war.
»Mach dich nicht lächerlich, Liv.«
Er griff entschlossener nach dem Beutel, und sie wich bei der plötzlich aggressiven Geste zurück. Die Worte des jugendlichen Polizisten kamen ihr in den Sinn. War Thomas jemals gewalttätig geworden?
»Alles in Ordnung hier?«
Liv drehte sich um, sah Daniel Beck hinter sich und machte einen Schritt zurück. Neben Thomas’ großer, kultiviert wirkender Erscheinung wirkte er wie ein Schwergewichtsboxer, den man in ein Businesshemd gezwängt hatte. Sie beäugte erneut die feindselige Körperhaltung ihres Mannes und machte einen weiteren Schritt von beiden Männern zurück.
»Livia, alles in Ordnung?«, fragte Daniel.
Erst da wurde ihr klar, was er gesehen haben musste – Liv verletzt und mit verbundener Hand, die lautstark mit einem Mann um einen Plastikbeutel stritt.
Doch sie war zu verlegen, um darauf antworten zu können.
»Alles in Ordnung, danke«, sagte Thomas.
»Livia?« Daniels Stimme klang entschlossen, und die Botschaft darin war klar. Sie lautete nicht, »wenn alles in Ordnung ist, gehe ich wieder«, sondern eher: »Ich gehe erst, wenn du es mir sagst.«
Sie hatte keine Ahnung, was er im Krankenhaus verloren hatte, doch als ihr plötzlich Unterstützung zuteilwurde, hätte sie sich am liebsten auf den Boden gesetzt und in ihren Krankenhauskittel geheult. »Ich … Ich bin …«
»Kennst du den?«, fragte Thomas.
Daniel verschränkte seine kräftigen Arme vor der Brust. »Ich habe Polizei und Krankenwagen gerufen. Und wer sind Sie?«
»Ich bin ihr Mann.«
Es war grotesk. Das ganze letzte Jahr hatte er alles darangesetzt, um sich vor dieser Rolle zu drücken. »Aber nicht mehr lange.«
Thomas griff wieder nach dem Beutel und fauchte sie an: »Herrgott, müssen wir das ausgerechnet hier klären?«
Daniel machte einen Schritt auf ihn zu. »Livia wurde heute Abend überfallen. Auf weitere Angriffe kann sie gut verzichten. Sie sollten wohl besser
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