Ich kann dich sehen: Thriller (German Edition)
dass Kelly all ihre Tränen und ihre Wut auf sie konzentrierte. Sie wusste, dass sie Zeit brauchen würde, um es zu verarbeiten, ganz egal wie sie und Jason sich entscheiden würden.
Es war ein deprimierendes Ende für ein Geschäft und eine berufliche Partnerschaft. Nur die Zeit würde zeigen, ob ihre Freundschaft das aushalten würde. Liv hatte Kelly Nachrichten hinterlassen, ein paar SMS geschickt, aber nichts mehr von ihr gehört – bisher jedenfalls nicht. Sheridan hatte ihr erzählt, Kelly und Jason würden miteinander reden, er würde auf dem Sofa schlafen, aber noch zu Hause wohnen. Liv hoffte, dass das ein gutes Zeichen war. Und sie hoffte, sie bald wiederzusehen. Sie vermisste sie – alle vier.
»Und, Puncher, was machst du jetzt?«
Liv wischte ihre Gedanken an die Vergangenheit beiseite und konzentrierte sich auf die Gegenwart. In jener Nacht in dem Parkhaus hatte Daniel zu ihr gesagt, sie solle um ihr Leben kämpfen. Das waren zwar nicht genau seine Worte gewesen, doch beweg deinen Arsch hier rauf hatte sie nicht nur über die Absperrung getrieben – es hatte sie aus ihrer Trägheit gerissen. »Malen.«
»Du malst?«
»Nur Wände. Ich streiche das Reihenhaus. Alles, von oben bis unten.«
»Was ist mit deiner Schulter?«
»Sie schmerzt höllisch, aber das fühlt sich großartig an. Wie eine Teufelsaustreibung. Ich habe gerade mit dem Garten angefangen.« Sie zögerte einen Augenblick. »Was ist mit deinen Träumen? Wie schläfst du?«
»Nicht schlecht.«
»Hast du immer noch Albträume?«
»Nicht mehr jede Nacht.«
Vielleicht ging es sie ja nichts an, aber sie wollte wissen, ob die letzten Ereignisse es noch verschlimmert hatten. Ob sie außer seinem Knie noch etwas anderes verletzt hatte. »Ist es immer derselbe?«
»Ja.«
»Komme ich drin vor?«
Er drehte den Kopf, und sie dachte schon, er würde nichts mehr sagen, doch er sagte etwas. »Nicht in den Albträumen.«
»In anderen Träumen?«
»Ja.«
»Von jener Nacht?«
»Ja.«
»Es tut mir leid.«
Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem kleinen, vertraulichen Lächeln. »Nicht nötig. Du genießt es. Wir genießen es beide.«
Sie hob die Augenbrauen.
»Besagte Nacht. Du erinnerst dich an die besagte Nacht?«
Sie hatte lange darüber nachgedacht. Dass sie das Ganze vielleicht nie überstanden hätte, wenn er nicht gewesen wäre. Doch das war nicht alles, worüber sie nachgedacht hatte. Sie zuckte die Achseln und tat lässig. »Erinnerungen vermischen sich manchmal mit Träumen, weißt du.«
»In diesem Falle hoffe ich das nicht, denn es sind außergewöhnliche Erinnerungen.«
Liv spürte, wie ihr langsam die Hitze ins Gesicht stieg.
Er lachte. »Bringt dich der teure Wein immer noch völlig aus dem Konzept?«
»Ich lasse es dieser Tage etwas ruhiger angehen. Bin schon eine ganze Weile nicht mehr aus dem Konzept gebracht worden. Es gab auch niemanden, der mich zugedeckt hätte.«
Er sagte lange nichts und sah sie an. Sie stützte die Ellenbogen auf den Tisch und wartete, bis er zu einer Einschätzung gekommen war. »Und?«
»Liv, was machen wir hier? Essen wir Eis, oder ziehen wir die Reißleine an unserem Fallschirm?«
Brauchte sie einen Fallschirm? Und was zum Teufel passierte hier gerade? Sie wollte ihm nur ein Eis vorbeibringen, doch jetzt fühlte es sich nach etwas anderem an. Es fühlte sich leicht, vertraut und nach einem kleinen Flirt an. Sie hatte gedacht, die Erinnerungen würden zurückkommen, sobald sie ihn sah. Das traf auch zu, jedoch waren es andere Erinnerungen, als sie erwartet hatte.
»Liv, was willst du?«
Sie sah zum Fußballspiel und ihrem jubelnden Sohn hinüber.
»Vanille oder Schokolade?« In seiner Stimme schwang Resignation mit, als er die Eisbecher hochnahm.
Sie sollte es ihm erklären. Sonst könnten sie es nie überwinden, was sie getan hatte. »Ich dachte, du wärest derjenige, der meine Freunde verletzt hatte. Darum habe ich dein Knie zertrümmert. Das kann ich nicht mehr rückgängig machen.«
»Das musst du auch nicht. Ich habe dir doch gesagt, wie man ein Knie zertrümmert. Du hast nur mit den Informationen gearbeitet, die du hattest. Dein einziger Fehler war, dass du nicht um dein Leben gerannt bist.«
Sie war überrascht, ihre Gesichtszüge entspannten sich. Er machte ihr keine Vorwürfe. Er war eben praktisch veranlagt; an ihrer Stelle hätte er telefoniert und wäre dann so schnell wie möglich verschwunden.
»Was willst du?«, fragte er erneut.
»Es geht darum, was ich nicht
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