Ich kann jeder sagen
Handtasche vom Arm und lief davon. Die Frau stürzte. Ich beugte mich über sie, um ihr aufzuhelfen. Ein anderer Passant nahm die Verfolgung des Räubers auf. Andere blieben stehen und schauten. Die Frau ließ sich nicht aufhelfen. Sie saß da und murmelte mit schiefem Mund, es war, als würde Strom durch ihren Kopf gejagt, unausgesetzt zuckte er hin und her. Ich dachte, dass sie aus Schock einen Schlaganfall hatte. Speichel im Damenbart. Das sagte ich nicht. Ich sagte nur: Ich versuchte ihr aufzuhelfen und rief den Umstehenden zu, man möge die Rettung rufen. Ich erfuhr dann, dass der Passant, der dem Räuber nachgelaufen war, diesen zunächst im Getümmel der Mariahilferstraße aus den Augen verloren, ihn dann aber doch wieder entdeckt hatte, ihn zu Boden riss, festhielt und nach der Polizei rief. Die Polizei war sehr schnell da.
Das Problem war, dass der Mann, der festgenommen wurde, die Handtasche nicht hatte. Vielleicht hatte er sie einem Komplizen weitergegeben, der in eine andere Richtung davongelaufen war.
Der Tatverdächtige leugnete beharrlich, mit der Angelegenheit etwas zu tun zu haben, er sei vielmehr selbst Opfer gewesen: Friedlich schlendernd sei er plötzlich zu Boden gerissen worden.
Der Richter fragte mich, ob ich mit Sicherheit sagen könne, dass es sich »bei diesem Mann«, er zeigte auf den Angeklagten, »um den Betreffenden« handle.
Der »Betreffende«? Ich sah den Mann an. Er stand da, als ginge ihn das alles nichts an. Seitlich war ein langer Tisch, hinter dem die alte Frau saß. Neben ihr eine jüngere. Ihre Tochter, wie ich dann erfuhr. Die alte Frau war sehr zart. Die jüngere dick. Um nicht zu sagen fett. Sie schauten mich an, aber auf ganz unterschiedliche Weise. Die Alte hatte etwas Ergebenes, ich hatte Mitleid mit ihr, aber die Jüngere – sie strahlte eine echauffierte Selbstgerechtigkeit aus, die nicht nur mit dieser Gerichtssituation zu tun hatte, damit, dass sie hier »im Recht« war. Sie war immer im Recht. Sie war der Typus »Alle tun mir unrecht, aber ich bin im Recht«. Vielleicht tat ich ihr unrecht.
Ich betrachtete den Mann genauer. Er hatte einen Anzug an. Es war deutlich, dass er nie oder selten Anzüge trug. Der Anzug war neu. Der Mann wirkte verkleidet. Seine Krawatte, ein riesiger blauer Kropf. So übertrieben, das Symbol der Angepasstheit.
Ob ich die Frage verstanden hätte, fragte der Richter.
Ja, Euer Ehren, sagte ich und grinste. Aus Verlegenheit. Ich wusste nicht, ob man zu einem österreichischen Richter »Euer Ehren« sagte oder ob dies nur in amerikanischen Justiz-Thrillern üblich ist.
Das Problem war, dass ich wirklich nicht mit Sicherheit wusste, ob dieser Mann der alten Frau die Handtasche geraubt hatte. Der Mann auf der Mariahilferstraße ist ein fremder Mann gewesen, und das hier war ein fremder Mann. Es ist so schnell gegangen. Jetzt ging alles so langsam. Das war verdächtig. Es sollte schnell gehen. Ja oder nein. Ich sah den Mann an. Jede Sekunde, die ich länger zögerte, beförderte seine Rettung. Der Versuch, mir sicher zu werden, erschien als verdächtige Unsicherheit. Ich spürte das plötzlich. Das machte mich nervös. Als hinge nun von meiner Antwort ab, ob ich selbst freigesprochen oder verurteilt würde. Ich sah den Mann an, wollte etwas sagen, zögerte, schluckte, schwieg. Das Zögern sprach für diesen Mann, nicht für mich.
Ich versuchte, mich an die Situation zu erinnern. Aber ich las nur Sätze in meinem Kopf: »Der Mann rempelte die Frau an, riss ihr die Handtasche weg …« und sah nur, was man sieht, wenn man solche Sätze liest.
Ich versuchte mich an irgendeine Besonderheit zu erinnern, an der Frisur des Mannes, der Statur, dem Gesicht, das ich doch gesehen hatte, als er, weglaufend, noch einmal kurz zurückblickte, irgendetwas, das ich nun wiedererkennen konnte.
Nein. Ich sah den Mann an. Nun sah auch er mich an. Ich glaubte zu sehen, dass er unmerklich lächelte.
Ich hatte den Eindruck, er begriff, dass ich dabei war ihn zu retten. Ich sah zu den beiden Frauen hin.
Und sagte: »Ich glaube: ja! Das ist der Mann.«
»Sie glauben?«
»Ja!«
Der Mann wurde im Zweifel freigesprochen. Ich war mir, als alles vorbei war, sicher, dass er es war. Aber am Ende ging er wegen meiner Unsicherheit frei.
Ich musste etwas unterschreiben und bekam ein Formular ausgehändigt, mit dem ich um Rückerstattung des Verdienstentgangs ansuchen konnte. Erschöpft setzte ich mich auf die Bank vor dem Verhandlungszimmer. Eigentümlicherweise war
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