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Ich kann jeder sagen

Ich kann jeder sagen

Titel: Ich kann jeder sagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
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imitierten die Klingeltöne der Handys.

Die blauen Bände
    Der Mann, Typus Hofrat Mitte der fünfzig, stand vor dem Regal und sagte: »Wow!«
    Er betrachtete die lange Reihe der blauen Buchrücken, strich mit dem Zeigefinger daran entlang, sagte: »Die habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Sie haben sie vollständig!«
    »Fast!«
    Er nahm einen Band heraus, aber er schlug ihn nicht auf, wog ihn in der Hand, geradezu zärtlich, dann schob er ihn zurück, glitt mit dem Finger in plötzlicher Entschlossenheit weiter bis zu Band 40, dem sogenannten Ergänzungsband 1.
    Er schlug das Buch auf, blätterte. Suchte er eine Stelle?
    Ich schaute ihm über die Schulter, sagte: »Gesetzt, wir hätten als Menschen produziert …«
    »Ja«, sagte er. »Ist hier unterstrichen.«
    »Ja.«
    »Was kostet der Band?«
    »Nichts!«
    »Was heißt nichts?«
    »Nichts. Ist unverkäuflich!«
    »Dieser Band?«
    »Jeder Band. Die ganze Ausgabe.«
    »Ich dachte, Sie sind eine Buchhandlung.«
    »Ich handle mit Büchern. Aber ich verkaufe nicht alle .«
    Er schlug das Buch zu, öffnete es wieder und betrachtete das Titelblatt. Es gibt Menschen, die schreiben da vorne in die Bücher ihren Namen hinein, manche sogar das Datum, wann sie das Buch gekauft oder gelesen haben. Auch hier hatte offenbar einmal ein Name gestanden, aber er war so heftig ausradiert worden, dass das Papier fast durchgerieben wurde.
    »Die Ausgabe hat starke Gebrauchsspuren, Risse, Schmutzflecken, Anzeichnungen. Aber das ist nicht der Grund, warum ich sie nicht verkaufe.«
    Pause.
    »Ist es nicht seltsam«, sagte er dann, »wie alles wiederkommt?«
    »Ja«, sagte ich, und nach einer Weile: »Es kommt jetzt eine neue Auflage im Dietz-Verlag!«
    Er hatte vorher das ATTAC-Buch, die »Vorschläge für eine gerechtere Welt«, vom Tisch der Neuerscheinungen genommen und an die Kasse gelegt. Jetzt bezahlte er es. Ich sah, dass er ein Alkoholproblem hatte. Das teigige Gesicht, die kleinen geplatzten Äderchen. Ich spürte, dass er das wusste. Es wirkte zu angestrengt, wie er um Korrektheit und Gepflegtheit bemüht war. Ich wünschte ihm, dass er den Alkohol unter Kontrolle bekam.
    Er zog eine Karte aus seiner Brieftasche:
    »Falls Sie es sich doch anders überlegen sollten!«
    »Kommen Sie wieder!«
    Er ging. Ich warf einen Blick auf seine Karte, »Dr. Daniel Urbanek«, sah auf die Uhr – da kam ein neuer Kunde herein.
    »Geschlossen!«, rief ich. »Tut mir leid, ich habe geschlossen!«
    »Jetzt?«
    »Ja. Jetzt! Ich muss weg! Kommen Sie später wieder! Geschlossen!«
    Er hob die Hände, als hätte ich ihn mit einer Waffe bedroht, machte einen Schritt rückwärts, drehte sich um und ging.
    »Dr. Daniel Urbanek. Leiter der Sektion II. Arbeitsmarkt. Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit.«
    Ich legte die Karte auf den Schreibtisch und nahm das »Komme um«-Schild. Das hatte mich schon als Kind auf klamme Weise belustigt, es war mein erster Kontakt mit der Morbidität Wiens, das Schild, das bei so vielen kleinen Läden an der Tür hing: die Ankündigung »Komme um«, und darunter eine Uhr, mit deren drehbaren Zeigern man die Stunde angeben konnte.
    Wenn meine Mutter mich als Kind zu Herrn Gamsriegler schickte, dem Lebensmittelhändler auf der anderen Straßenseite, weil ihr das Salz oder die Milch ausgegangen war, dann konnte es vorkommen, dass ich mit leeren Händen zurückkam und verkündete: »Herr Gamsriegler kommt um!«
    »Wann?«
    »Um vier!«
    Als ich meinen eigenen Laden eröffnete, war klar, dass ich, für die Fälle kurzer Abwesenheit, unbedingt auch so ein Schild haben musste. Ich bekam es zusammen mit dem Gewerbeschein im »Startpaket für neue Selbständige« von der Wirtschaftskammer. Das war Österreich.
    Ich drehte an den Zeigern. Unschlüssig. Wie lange würde ich brauchen? Eine Stunde? Zwei Stunden? Drei? Ich merkte, wie ich wieder wütend wurde. Den ganzen Tag? Zehn Jahre? Lebenslänglich?
    Ich war vor Gericht geladen. Zum ersten Mal in meinem Leben. Als Zeuge.
    Seit ich die Vorladung erhalten hatte, hat mich diese Angelegenheit immer wieder aufs Neue irritiert und blockiert: Statt mich etwa mit meiner Buchhaltung zu beschäftigen, was dringend notwendig war, saß ich da und grübelte genervt, wie ich mich diesem Gerichtstermin entziehen könnte. Sollte ich mich krankmelden? Oder einfach nicht hingehen? Würde ich dann von der Polizei vorgeführt werden? Vielleicht konnte ich meine Aussage per E-Mail machen? Was für eine Aussage? Außerdem stand auf der

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