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Ich kann jeder sagen

Ich kann jeder sagen

Titel: Ich kann jeder sagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
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Vorladung keine Mail-Adresse des Richters. Sollte ich einen Brief an das Gericht schreiben und um Entlastung bitten, da doch der Täter unzweifelhaft feststünde? Oder konnte ich mir als Zeuge einen Anwalt nehmen, der mich vertrat? Würde das Gericht diese Kosten übernehmen? Gab es so etwas: einen Pflichtverteidiger für einen Zeugen? In der Vorladung stand, dass mir die Kosten eines allfälligen Verdienstentgangs ersetzt würden. Verdienstentgang! Wie sollte ich den bemessen? Ich war Buchhändler. Selbstständig, keine Angestellten.
    Ich hatte keine Ahnung von meinen Rechten und dachte keine Sekunde an meine Pflichten.
    Meine kleine Buchhandlung hieß »Das Fenster« (nach dem Satz von Jorge Luis Borges: »Eine Bibliothek braucht kein Fenster. Eine Bibliothek ist ein Fenster.«) und befand sich im 4. Bezirk. Hier gab es kaum Laufkundschaft. Wer zu mir kam, kam nicht zufällig vorbei, sondern wollte zu mir und meinen Büchern. Wollte eine Buchhandlung ohne den Schrott esoterischer Ratgeber und künstlich gepushter Bestseller. Wer zu mir kam, wollte – keinen Zeugen?
    Es war zwanzig vor elf. Für elf Uhr war ich bestellt. Ich stellte das »Komme um«-Schild auf vierzehn Uhr und hängte es an die Tür. Das sah nach Mittagspause aus.
    Ich fuhr zum Gericht. Ich musste in einem Korridor vor dem Verhandlungszimmer warten, bis ich aufgerufen wurde. Ich fragte, wie lange das dauern werde. »Sie werden aufgerufen«, sagte die Frau noch einmal. Ich muss mit gesenktem Kopf vor ihr gestanden haben, weil ich mich schon wenige Minuten später nur noch daran erinnern konnte, dass sie Birkenstock-Sandalen trug. Pralle, vorne zipfelförmig spitze Füße, wie abgepasste Würste in der Haut einer braunen Strumpfhose, hineingeschoben in Birkenstock-Sandalen. Wie mich das alles wahnsinnig machte! Ich wollte rauchen. An der Wand, zwischen den Türen zu den Verhandlungszimmern, waren Aschenbecher montiert, kleine aufklappbare Kästchen aus dickem Metall, wie sie früher auch in der Eisenbahn zu finden waren – aber über diesen hier waren Schilder angebracht, auf denen stand: »Rauchen verboten«. Ich fragte mich, wer solche Entscheidungen traf: nicht die Aschenbecher abzumontieren, sondern über die Aschenbecher Rauchverbot-Schilder aus Blech an die Wand zu schrauben. Mit Bohrmaschine und Dübeln! Marx hatte geschrieben, dass die Justiz ein System der Selbstaufhebungen sei: was sie als allgemeine Voraussetzung verspreche, werde in der näheren Bestimmung außer Kraft gesetzt.
    Ich stand da und wartete. Auf einer Holzbank, die, verwitternd in einem Garten, recht hübsch gewesen wäre, saß ein händeringender Mann, auf den eine Frau beruhigend einredete. Ich kannte das nur als Floskel, als Bild, »händeringend«, aber zum ersten Mal sah ich einen Menschen, der dies wirklich tat. Dann fiel mir ein: »Häufchen Elend«. Das war der Mann buchstäblich. Das war zu viel Buchstäblichkeit. Ich wandte mich ab. Nach und nach verschwand meine Wut, meine Irritation wich einer Beklommenheit, die diesem trüben Ort geschuldet war, wo Schicksale entschieden wurden. Schuld.
    Plötzlich wunderte ich mich darüber, dass es so lange gedauert hatte, bis ich dieses Gebäude zum ersten Mal betreten musste. Und dann auch nur als Zeuge. Ein Häftling in Handschellen wurde von zwei Polizisten vorbeigeführt … Ich wich aus. Wie knapp. Wie wenig gefehlt hatte, dass ich selbst einmal als Angeklagter, als Täter … Ich schüttelte den Kopf. Buchstäblich.
    Ich ging auf und ab. Im Grunde macht man sein ganzes Leben nichts anderes. Auf und ab gehen. Man glaubt, man geht immer weiter. Man wird älter und glaubt, so weit ist man also gekommen. Aber man ist nur auf und ab gegangen. Wie in einer Zelle.
    Ich verabscheute Gewalt. Aber ich ertappte mich immer wieder dabei, mir vorzustellen, meine Wut mit mörderischer Gewalt abzureagieren. Welche Wut? Es hatte eine Zeit gegeben, eine entscheidende Zeit in meinem Leben, da hätte man mich aufrufen können, wie den Nächsten in einem Wartesaal, und ich wäre aufgestanden und hätte, vielleicht –
    Da wurde ich aufgerufen.
    Ich stand vor Gericht.
    Nach Feststellung der Formalitäten (Name, Adresse, Beruf) wurde ich zum Tathergang befragt. Der Fall war einfach, für das Opfer natürlich traumatisch, aber bei aller Dramatik eben doch einfach. Ich war auf der Mariahilferstraße unterwegs gewesen, um eine Besorgung zu machen. Da ging ein Mann rasch an mir vorbei, rempelte unmittelbar vor mir eine alte Frau an, riss ihr die

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