Ich kann so nicht mehr arbeiten!: Freude und Sinn statt Seeleninfarkt (German Edition)
Grenzen zu ziehen. Einen Jungmanager, der frotzelte, er sei wohl nicht mehr so fit wie früher, stellte er intellektuell kalt. Ob er noch nie vom 80-20-Prinzip gehört habe. Menschen erbringen achtzig Prozent ihrer relevanten Leistung in zwanzig Prozent ihrer Zeit. Wirklich leistungsfähig ist derjenige, der weiß, welche Aktivitäten und welche zwanzig Prozent seiner Zeit das sind.
Die so gewonnene freie Zeit investierte er in gemeinsame Unternehmungen mit seiner Frau und seinen Kindern sowie in seine Fitness. Er hatte sogar den Mut, gemeinsam mit seiner Tochter einen Wochenendkurs unter dem Titel »Achtsamkeitsübungen und Einführung in die Meditation« zu besuchen. Natürlich erzählte er in der Firma niemandem ein Sterbenswörtchen davon. Bei mir platzte er einige Wochen später fast vor Stolz, auch weil er sich inzwischen täglich fünfzehn Minuten Zeit nahm, diese Übungen auszuführen und zu genießen. Das ständige Geplapper in seinem Kopfkino hatte sich bereits merklich beruhigt. Ihm fiel auf, dass er weniger sprunghaft und hektisch war. Es gelang ihm sogar, sein Mobiltelefon stundenweise ganz zu ignorieren. Erstaunt stellte er fest, dass die Qualität seiner Arbeit davon sogar profitierte.
Die Kontakte zu seinen Kunden intensivierte Hans-Günther dadurch, dass er außer der Reihe anrief und sich einfach nur erkundigte, wie es ihnen und ihrer Familie gehe und ob er etwas für sie tun könne. Die meisten zeigten sich anfangs erstaunt, doch schon nach dem zweiten Anruf dieser Art war es ihnen ein Bedürfnis, ein privates Wort mit Hans-Günther zu wechseln. Im Unternehmen achtete er sehr diszipliniert darauf, nur noch das von sich zu geben, was Ereignisse aus dem Feld seiner beruflichen Möglichkeiten zutage förderte, die er sich für alle als dienlich vorstellte. Kollegen und Kunden nahmen Hans-Günther mit der Zeit ganz anders wahr: offen, warmherzig und gesamtverantwortlich engagiert.
Ursprünglich hatte sich Hans-Günther mit einem neuen Statussymbol für sein Handgelenk belohnen wollen, wenn er seinen Transformationsprozess durchhalten würde. In den, mittlerweile regelmäßig stattfindenden, Vater-Sohn-Gesprächen reifte jedoch der Wunsch nach einer anderen Art von Selbstliebe. Hans-Günther empfand eine tiefe Dankbarkeit für den Platz, auf den ihn das Berufsleben gestellt hatte, und für den Wohlstand, der ihn umgab. Den Geldbetrag, den er für die Dekoration seines Handgelenks vorgesehen hatte, spendete er. Die eine Hälfte ging an den Jugendclub in seiner Heimatstadt, der damit einen zweitägigen Technik-Workshop mit Vorträgen, Experimenten und Tüftlerwettbewerb veranstalten konnte. Die andere Hälfte schenkte er dem Eigentümer eines kleinen Unternehmens in Vietnam, der zu seinen Kunden zählte. Mit dem Geld konnte der Unternehmer vor Ort den Ausbau einer Höheren Schule unterstützen. Hans-Günthers Sohn war von diesen Gesten seines Vaters derart angetan, dass er ihn bat, in den nächsten Sommerferien mit ihm nach Vietnam reisen zu dürfen, damit er mit eigenen Augen sehen konnte, wie die Großherzigkeit seines Vaters die Welt veränderte.
Hans-Günthers Transformationsprozess dauert nun schon ein Jahr an und er hält entschlossen daran fest. Nach eigener Aussage gefällt ihm der Kerl, den er morgens rasiert und der ihn aus dem Spiegel anschaut, deutlich besser als je zuvor. Seine Arbeit, sagt Hans-Günther, habe eine neue Qualität bekommen. Jeden Tag verstehe er ein bisschen mehr von sich selbst und das freue ihn wie einen kleinen Lausbub, dem ein Streich gelungen sei. Hans-Günther hat abgespeckt und ist inzwischen recht fit. Er genießt den Augenblick, die schönen wie die schwierigen Momente. Druck empfindet er nur noch sehr selten. Vielmehr hat er das Gefühl, dass alles, was er an Verständnis, Zuwendung und Offenheit gibt, mehrfach zu ihm zurückfließt. Sein Verhältnis zu vielen seiner Kunden hat sich grundlegend verändert. Hans-Günther ist zum Vertrauten mutiert. Nicht mehr nur die Qualität der gelieferten Maschinen und sein kommerzielles Geschick dominieren das Bild von ihm als Chefverkäufer, sondern auch sein empfindsamer Charakter, den er den Menschen nun zeigt. Das erstaunt Hans-Günther am allermeisten. Erstmals in seinem ganzen Berufsleben werde er dafür gelobt, dass er ein mitfühlender Mensch sei. Und dass ihm dies von Vorgesetzten und Kollegen auch noch als Stärke ausgelegt werde, habe ihn tief im Innersten berührt.
Was Hans-Günther für sich allein bewegt hat,
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