Ich kenne dein Geheimnis
deutlich
erkennbar.«
»Ja. Dottor Scelsi sagt, dass zwischen der Injektion, dem Erwürgen und dem Stich mit der Hutnadel nur wenig Zeit lag.«
»Was macht es für einen Sinn, eine Sterbende zu erwürgen und ihr dann noch eine Hutnadel in die Brust zu rammen?«
Barbera zuckte mit den Schultern. »Ein Ritual vielleicht? Auf jeden Fall ist die Kriminaltechnik dabei, sämtliche Spuren zu
untersuchen.«
»Ähnliche Fälle?«
»Keine, habe ich überprüft.«
»Das schließt einen Serientäter aus, zumindest einen uns |16| bekannten. Hoffen wir nur, dass das hier nicht der Anfang einer Serie ist. Was weiß man über das Opfer?«
»Nichts. Die Handtasche war leer. Das mit der Hutnadel ist tatsächlich sonderbar …«
»Wie meinst du das?«
»Typisch weiblich eben. Hast du zufällig ›Matador‹ gesehen, den Film von Pedro Almodóvar?«
»Fürs Kino habe ich keine Zeit, Barbera.«
»Das ist ein älterer Film, bestimmt schon zwanzig Jahre alt. Es geht um eine Mörderin, die, inspiriert vom Tötungsritual der
Matadore, ihren Liebhabern beim Orgasmus mit einer Hutnadel das Herz durchbohrt.«
»Mag ja sein, aber unser Opfer ist eine Frau, und ich glaube nicht, dass …«
»Schon gut, Commissario. Ich meinte ja auch nur …«
»Wir geben das Foto des Opfers an die Presse und ans Fernsehen. Irgendjemand muss sie ja schließlich kennen.«
»Wird erledigt.«
Silvia vertiefte sich wieder in den Bericht. »Ein dreifacher Tod …«, murmelte sie.
»Silvia? Commissario?«
»Ja?«
»Dein Handy klingelt.«
»Oh, verdammt, wo ist …« Silvia warf ihrem Kollegen einen ungeduldigen Blick zu, während sie ihre Tasche durchwühlte. »Ah,
hier … Barbera, im Moment brauche ich dich nicht.«
Als sie den Namen auf dem Display sah, lächelte sie.
Chiara schaltete das Handy aus. Sie brauchte jetzt Ruhe. Im Bad warf sie einen kritischen Blick in den Spiegel. Diese Falten
zwischen den Augenbrauen gefielen ihr gar nicht, sie ließen ihr Gesicht düster wirken. Dabei hatten die Falten nichts |17| mit dem Älterwerden, sondern mit ihrem Gespräch mit Silvia zu tun. Einen Moment lang bereute sie, das Telefonat geführt zu
haben. »Die Vergangenheit ist wie ein Phantom. Man muss mit ihr abschließen, sonst vergiftet sie deine Zukunft«, hatte ihre
Großmutter Lia einmal gesagt. Ungewöhnliche Worte für eine alte Frau. Chiara hatte immer geglaubt, dass alte Menschen in ihren
Erinnerungen lebten. Aber ihre Großmutter war eben nicht wie die anderen. Sie besaß eine Weisheit, die nicht aus Büchern stammte,
sondern die sie sich im Verlauf ihres langen Lebens durch Zuhören und Beobachten erworben hatte. Bei diesen Gedanken musste
Chiara lächeln, und der verkrampfte Ausdruck um ihre Augen verschwand. Einen Moment lang glaubte sie sogar im Spiegel das
Gesicht ihrer Großmutter zu sehen, die mit ausgebreiteten Armen vor ihrem Haus in Pieve Santo Stefano stand, um sie willkommen
zu heißen. Bei ihr hatte Chiara als Kind jedes Jahr die Sommerferien verbracht. Sie sah ihr gebräuntes, wettergegerbtes Gesicht
mit dem feinen Netz blauer Äderchen um die Nase und auf den Wangen vor sich, vor allem aber die hellwachen Augen, sichtbares
Zeichen ihrer offenen Art. Mit zehn Jahren hatte Chiara ihren letzten Sommer in Pieve verbracht, und diese Wochen hatten ihr
Leben radikal verändert. Lia hatte sie danach nie wiedergesehen.
Sie erschrak. Warum musste sie ausgerechnet jetzt an den letzten Sommer bei ihrer Großmutter denken? Nach so langer Zeit?
Am Telefonat mit Silvia Giorgini konnte es nicht liegen. Sie schüttelte den Kopf, wütend auf sich selbst. Fing das schon wieder
an? Jedes Mal, wenn ihre Gedanken abschweiften, führte sie das auf ihre besondere Gabe zurück. Wie konnte sie nur so anmaßend
sein? Die Welt drehte sich doch nicht nur um sie und ihr Zweites Gesicht! Nachdem sie das erkannt hatte, fühlte sie sich schon
besser. Sicherlich hatte das |18| Gespräch mit Silvia Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse in Rom wachgerufen. Sie hatten sich während polizeilicher Ermittlungen
kennengelernt, die Commissario Silvia Giorgini gegen eine satanistische Sekte geführt hatte. Chiara hatte ihr geholfen, die
Anführer dingfest zu machen und zwei Menschen das Leben zu retten. Diese Ereignisse waren für sie wie eine Katharsis gewesen,
obwohl sie mit aufreibenden und äußerst belastenden Begleiterscheinungen verbunden waren. Sie hatte endlich akzeptiert, dass
sie das Zweite Gesicht besaß und
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