Ich kenne dein Geheimnis
Dinge sehen konnte, die anderen verborgen blieben. Und Silvia hatte endlich einen Schlussstrich
unter die Vergangenheit ziehen können. Aus dieser gemeinsamen Erfahrung hatte sich eine innige Freundschaft entwickelt, eine
tiefe Verbundenheit oder Seelenverwandtschaft, wie Silvia es nannte, die mit Worten nicht zu beschreiben war. Selbst Silvias
Versetzung nach Mailand hatte daran nichts geändert.
Auch Chiara hatte sich beruflich verändert. Ihr Boss bei Telestella, Ermanno Forte, hatte ihr die Leitung einer Talkshow angeboten,
die im Studio in Rom produziert wurde. Die Sendung hieß »Mein Geheimnis«. In dreißig Minuten sollte Chiara den mehr oder weniger
berühmten Gästen bisher Verschwiegenes aus ihrem Leben entlocken. Sicher, Telestella war kein großer Sender, das Geld war
knapp und auch die Zuschauerzahlen waren bescheiden, aber für Chiara war »Mein Geheimnis« trotzdem eine Chance. Endlich hatte
sie ein gewisses Maß an Freiheit, es war IHRE Sendung, und sie durfte sowohl ihre Interviewpartner als auch die Fragen auswählen.
Die Vorbereitung war ein Knochenjob – manchmal arbeitete sie von morgens um acht bis abends um elf, weil sie sich persönlich
um Texte und Filmbeiträge kümmerte. Aber die Mühe lohnte sich, die ersten Reaktionen waren vielversprechend.
»Wieder eine deiner ›Desperate Housewives‹«, spöttelten |19| die Kollegen, wenn der Klingelton die Ankunft einer neuen E-Mail ankündigte. Sie hatten natürlich nicht unrecht, meist waren
es in der Tat Hausfrauen, auch wenn bei weitem nicht alle ihre Fans so dumm und verzweifelt waren, wie einige Kritiker schrieben,
die es sich zum Ziel gesetzt hatten, Telestella und alle, die dort arbeiteten, in den Dreck zu ziehen.
Chiara dachte an ihren nächsten Gast. Welches Geheimnis würde Maria De Filippi den Zuschauern wohl preisgeben? Mit den Fragen,
die sie der bekannten Fernsehmoderatorin stellen wollte, war sie noch nicht ganz zufrieden. Aber sie hatte noch einige Tage
Zeit, um sich intensiv über ihren Gast zu informieren. Für den Augenblick schob sie den Gedanken jedoch beiseite, schlüpfte
aus dem Nachthemd und drehte den Heißwasserhahn der Dusche auf. Zum Glück musste sie heute erst später ins Büro, der Termin
mit Tony war erst um halb zwölf. Gemeinsam mit dem Cutter wollte sie das Interview mit der »Superstar«-Gewinnerin Anna Mauri
schneiden. Die nächsten zwei Stunden gehörten ganz allein ihr. Während sie darauf wartete, dass das Wasser heiß wurde, kam
ihr das Gespräch mit Silvia in den Sinn.
»Rate mal, womit ich mich gerade beschäftigen muss?«, hatte die Kommissarin mit einem Hauch Sarkasmus in der Stimme gefragt.
»Ein Mord ohne Motiv und ohne Mörder?« Silvias tiefer Seufzer bestätigte, dass Chiara mit ihrer spontanen Antwort richtiglag.
Mehr hatte sie gar nicht wissen wollen und deshalb rasch das Thema gewechselt. Ein Fehler. Offenbar hatte Silvia auf ihre
Hilfe gehofft, denn kurz darauf hatte sie das Gespräch abrupt beendet. Doch Chiara war auch nur ein Mensch. Wie oft musste
sie noch erklären, dass ihre Gabe nicht auf Knopfdruck funktionierte? Was zum Teufel hatte sich Silvia dabei gedacht?
|20| »Vergiss es einfach und lass dir diesen wunderbaren Tag nicht verderben!«, entschied sie und stellte sich unter die Dusche.
Das heiße Wasser rann ihren Körper herunter, entspannte Nacken und Schultern und ließ sie wohlig erschauern. Zum perfekten
Glück fehlte nur noch Paolo. Doch der Mann in ihrem Leben, wie sie ihn ein wenig scherzhaft nannte, war in New York. Er spezialisierte
sich in Internationalem Recht, und seine Fortbildung zum Thema Steuerhinterziehung würde noch einige Monate dauern.
Obwohl sie oft miteinander telefonierten, hatte sich Chiara anfangs verloren gefühlt, als ob ein Teil von ihr fehlte. »Du
kostest mich ein Vermögen!«, scherzte er.
»Sei bloß still! Wer von uns ist denn der Großverdiener?«, gab Chiara zurück.
Mit seinem hintergründigen, nie aufdringlichen Humor hatte Paolo De Felice ihr Herz erobert. Natürlich hatte auch das blendende
Aussehen des jungen Anwalts eine Rolle gespielt. Er war der Erste, der ihr tief verwurzeltes Misstrauen Männern gegenüber
ins Wanken gebracht hatte.
»Daran ist die Trennung meiner Eltern schuld. Dieses Erlebnis hat mich geprägt«, rechtfertigte sich Chiara vor ihren Freundinnen,
wenn sie wieder einmal einen Mann nach kurzer Zeit verlassen hatte. Meistens stieß sie auf Verständnis, aber
Weitere Kostenlose Bücher