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Ich lebe lebe lebe - Roman

Ich lebe lebe lebe - Roman

Titel: Ich lebe lebe lebe - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison McGhee
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überlebt, dann ist er nach Hause gekommen, hat noch zwölf Jahre weitergelebt, dann wars vorbei mit dem Leben. Zu viel Jack Daniel's. Leberzirrhose.
    »Rose.«
    Drehen. Drehen. Drehen. Rütteln. Nichts. Noch mal. Nichts. 11-5-36. Da ist sie wieder, Toms Hand, auf meiner Schulter.
    » Schsch «, macht er.
    Wieso – weine ich denn? Ja, ich weine. Ich weine, dabei bin ich schon zu spät für Geschichte und hab immer noch nicht dieses Buch der Kriege, ich will es nicht mal, dieses bescheuerte Buch der Kriege. Wie oft kann man denn über Adolf Hitler lesen, diese Schwarz-Weiß-Fotos von ihm und seinem Fliegenbärtchen sehen und von endlosen Reihen deutscher Soldaten im Gänsemarsch, ohne dass man das Buch nehmen und diesen Verrückten, ratsch, rausreißen will, um ihm den Hals umzudrehen, um ihn an all dem zu hindern, was er und alle nach ihm getan haben? All die nackten toten Körper, die aus ihren Massengräbern schreien, ihren Gaskammern, ihren Verbrennungsöfen. Das ist nicht die Welt, in der ich leben will , will ich ihm in diese furchtbare Psychotenvisage schreien, die all diese Reden auf Deutsch hervorbellt – so eine Welt will ich nicht!
    » Schsch .«
    Tom sieht mich an. Ich bin mit ihm aufgewachsen. Sein Cousin Joe ist Ivys Freund. Mit Tom bin ich zum Kindergarten gegangen und zur Schule, wir sind zusammen Rad gefahren, haben zusammen geangelt mit einem Stück Seil an einer Sicherheitsnadel, Planken zu Brücken über den Nine Mile Creek gelegt und uns Festungen im Heuschober gebaut.
    Ich putze mir die Nase mit einem Stück Schreibpapier, was soziemlich das Schlimmste ist, was man zum Naseputzen nehmen kann. Ein vertrocknetes, totes Blatt von einem Baum ist besser als ein Stück Papier aus dem Schreibheft. Zurück zur Kombination.
    11-5-36. Nichts.
    11-5-36. Nichts.
    Hinter geschlossenen Türen werden Namen aufgerufen. Hier. Ja. Anwesend.
    Hinter der verschlossenen Tür der Kriege ruft Mr. Trehorn vielleicht gerade mich auf: Rose Latham?
    Und Tracy Benova hebt vielleicht die Hand, will die Erste sein, die die Nachricht verkündet. Tracy Benova, Nachrichtenüberbringerin.
    Ich habe sie gesehen. Im Flur. Sie ist hier.
    Hier ist sie ja wohl nicht, sonst säße sie doch auf ihrem Platz, oder?
    Ich weiß nicht , könnte Tracy vielleicht sagen und sich wieder zurückziehen in ihre Tracywelt. Ich weiß nur, Mr. Trehorn, dass sie mit Jimmy Wilson geschlafen hat, oben am Fluss.
    Würde Tracy Benova das zu Mr. Trehorn sagen? Nein. Im Flur haben sie es aber gesagt. Hat es mir was ausgemacht? Nein, hat es nicht. Wieso sollte es auch? Sie haben meine Schwester als lebende Leiche bezeichnet. Dumm sind sie, dumm, dumm, dumm.
    Drehen. Drehen. Drehen. Rütteln.
    »Rose.«
    Tom Millers Hand liegt auf meinen Fingern, die auf dem Zahlenschloss liegen. Er löst sie ab.
    »Wie ist deine Kombination?«
    »11-5-36.«
    Seine Finger drehen den Knopf herum. Mir tut der Kopf weh. Geschichte wartet auf mich mit ihren Kriegen, in Raum 107, amEnde vom Gang. Tom Miller dreht noch einmal den Knopf. Nichts.
    WUMM !
    Er haut das Schloss gegen die Tür.
    WUMM !
    WUMM !
    KNACK
    Die Tür springt auf. Tom zieht das Schloss ab und hält es mir hin: Befreit.
    Später sitze ich auf dem grünen Stuhl an Ivys Bett. Hinter mir auf dem blauen Stuhl sitzt unser Nachbar William T. Jones, der weiter oben in unserer Straße wohnt, oben auf dem Jones Hill. Ich schlage das Buch über Pompeji auf, das ich im März ausgeliehen habe, als ich noch vorhatte, für mein Forschungsprojekt über Pompeji zu schreiben, was ich mir inzwischen aber anders überlegt habe.
    Lass mich dir vorlesen, Ivy, Schwester – lass mich dir etwas vorlesen über Pompeji, die verlorene Stadt.
    Ich beuge mich weit vor. Der Gehörsinn schwindet als Letztes, heißt es. Irgendwo da drin, hört Ivy mir da zu?
    »Sie kann nicht hören«, hat der Arzt gesagt. »Sie hat keinen vestibulo-okularen Reflex.«
    Was weiß der schon? Kann er sich absolut sicher sein? Nimm zum Beispiel das Higgs-Teilchen, das letztes Jahr Thema meines Forschungsprojekts war. Zwanzig Jahre lang hatten Physiker danach gesucht. Sie halten es für einen vibrierenden Teil des unsichtbaren Vakuums, das allem im Universum zugrunde liegt. Kann man das Higgs-Teilchen sehen? Nein, kann man nicht. Und trotzdem glauben die Physiker, dass es existiert. Wenn aberdas Higgs-Teilchen existieren kann, wieso dann nicht auch Ivys Gehör, irgendwo weggesperrt, wo niemand es finden kann?
    »›Am 24. August im Jahre des Herrn 79‹«, beginne

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