Ich lebe lebe lebe - Roman
geschlafen hat, oben am Fluss, hast du davon gehört?
Rose, der Freak.
Der Schulkorridor ist ein wildes Gewirr aus Farbe und Geräusch und Bewegung. Ich schließe die Augen und lehne mich an eines der Schließfächer, die die Wände säumen. Spüre das harte, kühle Metall. Drücke mich fest dagegen.
»Meine Mom sagt, es gibt keine Hoffnung. Sie bleibt so, für immer.«
»Muss sie am Ende im Rollstuhl sitzen?«
»Im Rollstuhl ? Soll das ein Witz sein? Die kann sich doch nicht mal bewegen. Essen kann sie auch nicht. Nicht mal atmen.«
»Sie kann nicht atmen ?«
»Nicht ohne Beatmungsgerät. Sie vegetiert bloß so dahin, als lebende Leiche. Nicht mal ein Auge kann sie aufmachen, Mann. Die ist hinüber, aber sie wollen den Stecker nicht ziehen. Das hat meine Mom gesagt.«
Die Nicht-Glocke schrillt wieder. Dieses grauenvolle Geräusch, das absolut nichts mit dem Klang einer Glocke zu tun hat, wird wieder auf die Welt losgelassen, um sein Unwesen zu treiben. Gewöhn dich dran. Krieg ist nun mal laut, Rosie. Mach die Augen auf, Rose. Mach die Augen auf, und folge den Stimmen. Um die Ecke. Da.
»Sie kann die Augen aufmachen«, sage ich.
Sie drehen sich zu mir um. Tracy Benova hält einen Stapel Bücher mit einer Hand. Mit der anderen kramt sie im Spind nach ihrer Jacke. Todd Forrest, der mit den schmalen blauen Augen, sieht verlegen weg, lehnt sich an das Schließfach neben ihrem.
Tracys Blick fliegt hin und her, so wie immer, wenn sie gleich lügt. Ich kenne das. Ich kenne Tracy Benova schon mein ganzes Leben lang. Ich stehe da und warte geduldig auf die Benova-Lüge.
»Wir haben von meiner Tante gesprochen, Rose«, sagt Tracy. »Du weißt doch, meine Großtante. Die ist mindestens hundert und in einem Pflegeheim und muss durch einen Schlauch ernährt werden und –«
»Ihr habt über meine Schwester geredet.«
Todd räuspert sich. Todd, der Präsident des Debattierclubs. Todd, Mr. Football. Ich hebe eine Hand, bevor er loslegen kann zu reden, so wie er immer redet, wie ein Politiker in den Fernsehnachrichten. Halt, Mr. Forrest. Halten Sie ein, meine Stimme haben Sie bereits verloren.
»Wirklich, sie kann die Augen aufmachen«, sage ich. »Ich habe es selbst gesehen, wie sie die Augen geöffnet hat.«
Ich spüre einen Druck auf meiner Schulter. Ich drehe mich um, bereit, den Angreifer niederzuschlagen. Bereit, meine Heimat zu verteidigen gegen die Mächte, die sie überrollen wollen.
»Hey.«
Tom Miller. Er sieht mich fest an. »Gehen wir«, sagt er.
Allein mit dem Druck seiner Hand dreht er mich um, er schiebt mich zu meinem Spind und lässt die Hand die ganze Zeit auf meiner Schulter liegen. Ich überlege schon, ob ich sagen soll: Verdammt noch mal – was glaubst du eigentlich, wer du bist? Aber ich bin zu müde. Außerdem weiß ich ja, wer er ist. Tom Miller. Auch ihnkenne ich schon mein Leben lang. Das ist nun mal so, wenn man am selben Ort zur Welt kommt und aufwächst, zumal es an diesem Ort ohnehin nicht so viele Leute gibt. Ein Ort wie dieser hier, in den Adirondacks, wo auf tausend Bäume ein Mensch kommt.
»Wie geht es ihr?«, fragt Tom Miller.
Er steht neben meinem Fach, während ich versuche, das Zahlenschloss aufzubekommen. Wieso mache ich mir überhaupt die Mühe, diesen blöden Spind immer zuzuschließen? Ist doch sowieso nichts Wertvolles drin. Eine rostige Haarspange, ein Butterbrot vom Tag vor dem Unfall, das inzwischen so verschimmelt ist, dass es fast zu Staub zerfällt. Ein fleckiges T-Shirt. Ein Buch über Kriege, Rücken kaputt. Wer sollte von diesem ganzen Mist was klauen wollen?
»Wie geht es ihr?«
Ich drehe. Drehe. Drehe. Rüttle am Griff. Tom wartet. Blödes Zahlenschloss. Drehen. Drehen. Drehen. Rütteln.
»Rose? Wie geht es Ivy?«
Ich schüttle den Kopf. Was kann ich ihm schon sagen? Nichts.
Drehen. Drehen. Drehen. Rütteln.
»Okay«, sagt Tom. »Wie geht es dir?«
Drehen. Drehen. Drehen. Rütteln.
»Rose.«
Noch einmal die Kombination einstellen, alles genau richtig: 11-5-36, trotzdem geht das Ding nicht auf. Inzwischen bin ich zu spät für Geschichte, und ich brauche dieses Buch der Kriege. Man will doch keinen Krieg verpassen, oder? Wir sind schon bei Korea. Seit März ist die Klasse ordentlich vorangekommen: Unabhängigkeitskrieg, Krieg von 1812, Bürgerkrieg, Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg. Jetzt ist Ende April, ich gehe wieder zur Schule, und bald machen wir mit Vietnam weiter. Tom MillersVater hat in Vietnam gekämpft. Er hat gekämpft, er hat
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