Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
Schrei und fuhrwerkte durch die Gänge, gegen die Wände schlagend. Christian brüllte noch im Halbschlaf zurück: »Der Terrorist muss weg.« Nachmittags brachte er mir Blumen mit und war wieder im Lot. Aber das ist kein Alltag, es ist ein Durchwursteln von Katastrophe zu Katastrophe. Ich weiÃ, dass all das nicht ewig funktionieren wird. Ich weiÃ, dass Christian ein besseres Leben verdient hat. Aber habe ich es? Wie soll ich es leben, wenn es Simon so viel kosten wird?
Vor kurzem habe ich Simons Vater zu einem Gespräch mit dem Kompetenz-Zentrum gebeten: Thema Heimunterbringung. Er war offen, ruhig, kooperativ. Er hat mir Simon nach meinem Zusammenbruch, der auf den Termin folgte, tagelang abgenommen und sich bereit erklärt, ihn künftig noch häufiger zu betreuen. Simon übernachtet jetzt vier Mal die Woche bei seinem Vater, mit dem ich dafür das Pflege- und Kindergeld teile. Er sagte, er würde in seinem Sohn immer eine Aufgabe sehen, sich nie von ihm zurückziehen. Das war sehr wichtig für mich: zu erfahren, dass ich dieses Kind nicht alleine lieben muss. Vieles hatte sich mit diesen Sätzen von ihm in mir gelöst, eine jahrelange Angst. Vielleicht war das mit ein Grund, warum ich am selben Abend völlig die Beherrschung verlor, das Zittern zu einem Schlottern wurde und das Weinen einfach nicht aufhörte.
Der andere Grund war: Ich kann mir inzwischen vorstellen, dass Simon in einem Heim leben wird. Ich unternehme ja sogar die für die Unterbringung notwendigen Schritte. Ich besuche Einrichtungen, spreche mit den Leitern, kontaktiere die Beratungsstellen, tue, was nötig ist.
Aber ich kann mir bei alldem nicht vorstellen, wie ich vor Simon trete und es meinem Kind sage. Was ich für ihn plane. Was jetzt geschehen wird. Und dass es das Beste für ihn ist. Ich kann es einfach nicht. Wann immer ich daran denke, während ich die Besichtigungstermine mache und die Gespräche führe und an den Abenden danach regelmäÃig zusammenklappe, fühle ich mich wie jemand, der auf einem Floà einem Wasserfall zutreibt und dabei noch rudert.
Simon selbst hat die Frage danach, wie es weitergeht, einmal mit seinen eigenen seltsamen Worten gestellt: »Wie heiÃt die Hauptstadt von Zukunft?«
HeiÃt sie Heim? Wann wird sie kommen? Ich weià es nicht.
Wofür es gut ist
Das Gerede der Leute, die meinten, einen tieferen Sinn in Simons Behinderung sehen zu müssen, ist mir immer schon auf die Nerven gegangen. »Mei, wer weiÃ, wofürâs gut is, gell?« Oder gar: »Der liebe Gott wirdâs schon wissen.«
Gott, an den ich nicht glaube, kann getrost aus dem Spiel gelassen werden. Wenn Simon eine Prüfung für mich sein soll, wie jemand so freundlich war zu mutmaÃen, was zum Teufel hat der arme Junge dann verbrochen, diese Prüfung darstellen zu müssen?
Eine Weile sagte ich mir trotzig: Simon ist mir gegeben worden, weil ich ihn lieben kann .
Aber hilft das weiter?
Natürlich verweise auch ich auf die Menschen, die Simon Sympathie entgegenbringen und einen Sinn für seine manchmal sehr liebenswerte, ganz und gar unverstellte Art haben. Es sind gar nicht so wenige. Er hat seinen ganz eigenen Charme.
Dann wieder muss ich an Jonathan denken, der seinen Bruder liebt, aber trotzdem eines Tages völlig aufgewühlt aus dem Ethikunterricht kam, wo es wohl um Abtreibung gegangen war und die legalen und legitimen Gründe dafür, mithin auch um Behinderung und lebenswertes Leben, worüber vermutlich viel Gutmenschliches gesagt worden war. »Die haben alle keine Ahnung, wovon sie reden«, sagte mein Sohn. Er war blass und so wütend, wie ich ihn selten gesehen habe. Nein, ich glaube nicht, dass er sich einen anderen Bruder wünschen würde, wenn er die Wahl hätte.
Natürlich führe ich auch Simons Schönheit an, man soll Schönheit nicht unterschätzen. Sie ist magisch. Sie verführt und bezaubert und hält auch mich bei der Stange, keine Frage. Noch heute schmuse und tändle ich so gerne mit ihm und schnuppere an seiner Haut, die noch immer kindlich duftet. Er kann mich hinreiÃen mit seinen riesigen Augen, seinem Engelsgesicht, wenn er schläft, seinem kräftigen kleinen Körper, der noch so kindlich-perfekt ist, und mit seiner Fröhlichkeit manchmal.
Lieber allerdings würde ich Nick Hornby aufgreifen, der vom wilden Zauber der Anarchie erzählt. Ja, den spüre ich
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