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Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können

Titel: Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tessa Korber
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Heim noch, wo ich kann. Es ist eine Realität, der ich ungern ins Auge blicke.
    Für Autisten einen guten Platz zu finden ist schwierig, da die Heimlandschaft nicht auf sie ausgerichtet ist. Geistig behindert oder körperlich, das sind die beiden Kategorien; Autisten sitzen da ein wenig zwischen allen Stühlen. Oft sind viele Anläufe nötig, bis sie ihren Platz gefunden haben, und gerade Autisten haben ja ein Problem mit häufigen Änderungen, da beißt sich die Katze also in den Schwanz.
    Simon wird später einmal umso mehr Auswahl und umso mehr Möglichkeiten und Freiheiten haben, je weniger Betreuung er benötigt. Mein Wunschtraum für ihn wäre, dass er mit einer Form des betreuten Wohnens auskommt und sein Leben und seinen Alltagsablauf dadurch in weiten Teilen selbst bestimmen kann. Wenn er viel Unterstützung und Aufsicht braucht, Tag und Nacht wie bisher, wird er in ein klassisches Heim müssen, aller Wahrscheinlichkeit nach in eines für geistig Behinderte, wo am intensivsten betreut wird, aber dort würde er unter Umständen geistig verkümmern. Das zeigte mir das fehlgeschlagene Experiment mit der »Verhinderungspflege«:
    Ich hatte von der Möglichkeit erfahren, behinderte Kinder auf Kassenkosten für kurze Zeit in ein Heim zu geben, damit man auf Kur fahren oder überhaupt mal Urlaub, mal Pause machen kann; Verhinderungspflege nennt sich das in schönem Amtsdeutsch. Das Heim pflegt, weil ich verhindert bin. Mein Freund wollte gerne mit mir mal in die Ferien fahren, mir Paris zeigen, die Stadt, die er so liebt. Auch ich wollte das liebend gerne. Der Gedanke, mal ein paar Tage am Stück auszuschlafen, mal eine ganze Woche nicht an Simon zu denken, mal aus der Wohnung und den engen Alltagsbahnen herauszukommen, war so verführerisch, dass ich hoffnungsvoll wurde. Warum, sagte ich mir, sollte es nicht klappen? Nur weil Simon die letzten Jahre nirgendwo anders als in seinem Zuhause hatte schlafen wollen? Weil jeder Versuch einer Auswärtsübernachtung, selbst wenn er dabei an meinen Körper geschmiegt hatte schlafen dürfen, ein Desaster geworden war? Eben drum.
    Aber die Aussicht war so verlockend, dass ich an Wunder glauben wollte. Außerdem machte das Heim einen denkbar guten Eindruck. Autistische Kinder wurden in Wohngruppen betreut, alles sah überschaubar und familiär aus, ich revidierte alle schlimmen Bilder, die ich bislang von solchen Einrichtungen hatte. Das Leben dort war lebbar. Sie kannten sich mit Autismus aus, arbeiteten mit Teacch. Die Leiterin war bei allen Treffen so einfühlsam, das Team jung und engagiert.
    In mir fanden Erdrutsche an Gefühlen statt. Perspektiven taten sich auf. Nicht nur ein Urlaub lag plötzlich in Reichweite, eine Woche, zwei Wochen am Stück, am Ende, in ein, zwei Jahren, sogar drei Wochen! Mal wieder ein Sommer am Strand, friedlich in der Sonne liegen, dem Meer lauschen, ungestört ein Buch lesen und die Zeit vergehen lassen!
    Nein, es ging noch weiter. Der Gedanke kam, dass Simon hier heimisch werden, langsam, über mehrere Aufenthalte, sorgfältig aufgebaut, in ein Leben dort hineinwachsen könnte. Und zwar nicht »irgendwann«, in weiter Ferne, wenn meine Kräfte nachgelassen hätten und ich einfach nicht mehr konnte, sondern in zwei, drei Jahren schon. Ich könnte ohne Reue ein Leben ohne Simon führen. Frei sein. In die Stadt gehen, wann ich wollte, mal im Kaffeehaus in Ruhe mit Freunden etwas trinken. Ausschlafen am Wochenende. Durchschlafen. Nicht immer die Ohren nach ihm spitzen, auch wenn ich gerade etwas ganz anderes tat. Nicht mehr beim Staubsaugen den Sauger ausschalten, weil ich mir eingebildet hatte, ich hätte ihn schreien hören. Ruhig werden. Mich nicht mehr überfordert fühlen.
    Seine Pubertät nicht miterleben müssen, keine Sorge mehr haben, ob ich seine Schläge irgendwann nicht mehr abwehren könnte, ob ich den Schlafentzug durchhielte, die dauernden Sorgen, die Verantwortung. Nicht jeden Tag durch die ganze Skala von Gefühlen geschleudert werden im Zug seiner Anfälle von Wut und Verzweiflung. Mich nicht ständig fragen, was ich noch, was ich besser tun könnte.
    Die ganze Zeit über hatte ich mir nicht vorstellen können, mein Kind je loszulassen, mit einem Mal, weil sich die Möglichkeit auftat, dass es ihm fern von mir tatsächlich gutgehen könnte, konnte ich es. Es war ein seltsam giftig-süßes

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