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Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können

Titel: Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tessa Korber
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auch oft in Simons Schreien und Gesängen, in der Art, in seinem Anblick, nackt im Schnee wie ein Fabelwesen, in seinen hemmungslosen Sprüngen und seiner völlig unverstellten Begeisterung.
    Mit Autisten, würde ich weitergehend hinzufügen, ist man fast völlig dagegen gefeit, zu verspießern. Wer sich, wie ich, nie wirklich ein Leben im Mainstream gewünscht hatte, mit Reihenhaus (in dem ich dann doch landete) und Feierabend und bürgerlichem Beruf und Schwätzchen mit den Nachbarn und freitagabends Ausgehen in den guten Kleidern, der ist bei einem Autisten richtig.
    Sie werden nie mehr wie die anderen sein, denn was Sie erleben, versteht eh kein Mensch. Sie werden den Rest Ihres Lebens durch Bizarrerien auffallen und Extravaganzen. Sie werden sich im Gegenzug durch eine wachsende Gleichgültigkeit gegenüber den Regeln der bürgerlichen Gesellschaft und ihren Werten auszeichnen. Sie werden fremden Männern fröhlich erklären, warum Ihr Sohn sie auf die Glatze küsst, und zusehen, wie Ihr Kind in jedem Fischteich badet. Sie werden darauf pfeifen, pünktlich, verbindlich und korrekt gekleidet zu sein, das schaffen Sie eh nicht mehr. Sie werden alle links liegen lassen, die sich mokieren und verwundern und schlicht zu blöd sind zu begreifen. Die bringen Ihnen nichts, die brauchen Sie nicht. Für Höflichkeit sind Sie ohnehin viel zu müde.
    Gratuliere, Sie gehören zu einer Avantgarde der ganz wenigen, und Ihr Leben ist wahrhaft interessant .
    Sie werden es im Ausnahmezustand verbringen, wie in einer permanenten Amour fou. Sie werden Himbeereis zum Frühstück essen und im Fahrstuhl Rock ’n’ Roll tanzen, warum auch nicht. Simon liebt Himbeereis, egal, um welche Uhrzeit, und das Lied, das aus den Boxen im Aufzug kommt, kennt und liebt er, also los.
    Sie werden nie mehr Small Talk treiben, weil alles, was Sie umtreibt und permanent beschäftigt, so existentiell und drängend ist, dass es in jedem Gespräch aus Ihnen herausplatzt und Ihrer Konversation eine zutiefst menschliche, philosophische Note verleiht.
    Ihre Freunde werden Sie anstrengend finden, weshalb Sie nur noch gute Freunde haben, solche, die den Namen wirklich verdienen. In Ihrem Umfeld gibt es keine Oberflächlichkeiten und keine Unverbindlichkeiten. Jedenfalls nie lange, dafür fehlt Ihnen die Kraft.
    Was ist Klugheit wert, wenn sie weder weise noch gütig macht? Nichts, und da liegt ein weiterer Wert von Simons Krankheit für mich. Sie hat mir geholfen, meine einseitige Intellektualität aufzulösen, mit der ich schon lange nicht mehr glücklich war, ohne doch zu begreifen, wieso. Am handgreiflichsten wurde es natürlich im Desaster meiner Ehe, die als Studentenehe begonnen hatte und nie so recht ins außeruniversitäre Dasein fand. Da kamen die Zweifel an der eigenen Weiblichkeit. Aber es war nicht allein die Frage von Begehrtwerden und Begehrenswertsein, wenn darin auch ein großer Teil des Problems steckte.
    Nach dem Abgang von der Universität hatte es begonnen, dass ich mich orientierungslos und unglücklich fühlte, nirgendwo angekommen, weder im Reihenhaus noch im neuen Beruf als Autorin. Ich hielt Lesungen als Schriftstellerin, aber ich war keine. Ich benahm mich eher wie eine Musterschülerin; eine Rezensentin konstatierte das einmal voll kaum verhohlener Abneigung. Ich begriff ihre Aversion nicht, ich hatte doch ein gutes Referat gehalten? Was wollten die denn alle von mir, diese Menschen, die da auf einmal Temperament und Charisma und Geheimnis erwarteten, Charme, gar Kapricen, mit einem Wort: Künstlertum? Nichts davon hatte ich zu bieten. Ich war einfach weiter, was ich bis dahin zeit meines Lebens zu sein versucht hatte, erst in der Schule, dann an der Universität: ein kluges, ein wenig weltfremdes Kind.
    Meine Kindheit war davon geprägt gewesen, auch meine Jugend. Ich galt als gute Schülerin, als Bücherwurm, als altklug, weit weniger als hübsch oder extrovertiert oder lebenslustig oder freundlich. War ich wohl auch nicht, jedenfalls richtete ich mich problemlos in der Rolle ein. Schon Schminke schien mir ein übermäßiges Heischen nach Aufmerksamkeit, das mir für mich persönlich als lächerlich erschien. Ich sah gern auf den Boden und hoffte, dass die Leute mich nicht wahrnahmen. Erst in Debatten über den Aufbau des Weltalls oder den Sinn moralischer Gesetze lebte ich auf. Im Schülertheater bekam ich

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