Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
sprach sie lange mit Jonathan und meinte hinterher, ich solle mir keine Sorgen machen. Da sei viel Positives, auf das er zurückgreifen könne. Nicht zuletzt unser gutes Verhältnis zueinander. Sie würde sich keine Sorgen machen. Es fügte sich dann ja auch alles wunderbar.
Jetzt erinnerte die Ãrztin mich daran, dass Jonathan seinerzeit genau dasselbe getan hatte: Er hatte die U8 ebenfalls komplett verweigert und ihr auÃerdem noch in den â nicht unerheblichen â Busen getreten. Also Ruhe bewahren, riet sie, abwarten, das Kind nicht vorzeitig in Schubladen stecken.
Aber die Ruhe bewahren, das konnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. AuÃerdem hatte ich zu Jonathan einen guten Draht, einen seelischen Kontakt. Ich wusste in jedem Moment, warum er etwas tat und was er dabei dachte und fühlte. Ich wusste, er hasste »blöde Häuser«, blöde Tests und blöde Beschäftigungen, ich wusste, dass er manchmal ausgesprochen in sich gekehrt sein, dann aber wieder unbeschadet auftauchen konnte. Auch bei ihm war aus dem Kindergarten einmal eine Hiobsbotschaft gekommen, im letzten Jahr, mit ernster Miene vorgetragen: Feinmotorik und Stifthaltung seien suboptimal. Aber da hatten wir zu Hause einfach gemeinsam Tiere abgepaust und ausgeschnitten und einen tischplattengroÃen Zoo daraus geklebt, und danach warâs gut.
Ich wusste auch, dass ich ihm beim Einschulungstest besser noch mal zuflüsterte: »Mal fünf Finger an die Hände von dem Männchen; das ist denen hier wichtig.« Und als die Amtsärztin ihm fünf Bilder zeigte, aus denen er das nicht dazu passende auswählen sollte â was er im ersten Durchgang souverän löste, um beim zweiten lange zu zögern â, und sie ihn mit spitzem Ton fragte: »Na, kannst duâs nicht?«, da antwortete mein Sohn einfach: »Nein, ich denke nur gerade über was anderes nach.« Ich wusste, das stimmte ganz genau, und lächelte in mich hinein.
Was in Simon vorging, davon hatte ich keine Ahnung.
Wir baten die Kinderärztin um ein weiteres Gespräch. Damit ich dabei nichts vergaÃ, schrieb ich in den zwei Wochen Wartezeit bis zu unserem Termin eine kleine Zusammenfassung unserer Eindrücke von Simon, die ich ihr vorher überreichen wollte, damit sie bereits im Vorfeld ein möglichst umfassendes Bild bekäme und sich ihrerseits vorbereiten konnte. Wir hatten nur eine Stunde Zeit, und ich wollte das Maximale aus diesem Gespräch herausholen. Wir litten, wir waren am Ende, ich wusste, wir brauchten Hilfe und wollten alles tun, um sie zu bekommen.
Als das Dokument, an dem ich viele Stunden saÃ, endlich fertig war und ich es in die Praxis brachte, brach ich bei der Ãbergabe in Tränen aus, einfach, weil jemand mich zur BegrüÃung gefragt hatte: »Wie gehtâs?«
Vielleicht auch, weil ich in jenen Wochen ohnehin so weit war, bei jeder Gelegenheit in Tränen auszubrechen. Sie lieÃen sich einfach nicht mehr zurückhalten, es tropfte und tropfte.
Die Kinderärztin schaute mich an und verlegte den Termin um eine Woche vor. AuÃerdem diagnostizierte sie quer über den Tisch eine Depression, empfahl mir einen Psychiater (der ihre Einschätzung bestätigte) und die Einnahme von Pillen, damit ich vorerst stabil bliebe. Mein Kind, meinte sie, werde mich vermutlich brauchen.
Sprich es aus und es wird wahr
Nichts hatte mich bis dahin so viel Mühe gekostet wie das Formulieren dieses Schriftstücks. Ich hatte schon ein paar Romane geschrieben und zahllose Referate, Artikel und Werbesprüche. Aber noch nie in meinem Leben etwas so Wichtiges. Und noch nie war mir ein Text so schwergefallen. Ich wollte genau sein, durfte nichts vergessen, was vielleicht einen Hinweis geben konnte, wenn ich auch nicht recht wusste, worauf. Ich wollte nicht larmoyant erscheinen oder gar hysterisch. Gleichzeitig musste ich Formulierungen finden, die unserer Notlage gerecht wurden. Wir brauchten Hilfe. Alleine, das war uns klargeworden, würden wir nicht weiterkommen. Auch das war neu in unserem Leben: hilfsbedürftig zu sein und es offen aussprechen zu müssen.
Ach was, wir waren nicht hilfsbedürftig, wir waren verzweifelt, wir, die wir es immer abgelehnt hatten, auch nur einen Erziehungsratgeber zu konsultieren, weil wir uns im Umgang mit unseren Kindern auf unsere Intuition hatten verlassen wollen, ideologiefrei und echt. Aber fünf Jahre Simon, und wir waren
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