Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
hätte ich alles schon am nächsten Tag wieder weggepackt, am besten gleich zerhäckselt und die Ãberreste aufgesaugt, um diese zusätzliche Last, so schnell es ging, wieder aus meinem Leben zu entfernen. Bis heute habe ich Angst vor Weihnachten.
Gesund war das nicht, das war mir klar. Anders gesagt: Ich war meiner Ansicht nach ganz unten. Hätte ich geahnt, wie tief es noch hinuntergehen würde, ich weià nicht, wie ich reagiert hätte. Damals jedenfalls war ich nach diesem Vorfall bereit, Verantwortung abzugeben und jemand anderen zu fragen: Was, um Himmels willen, soll ich tun?
Im Nachhinein erwies es sich als Glück für mich, dass mein Vater kurze Zeit vor meinem Zusammenbruch selbst einen gehabt hatte. Er war mit massiven Schwindelgefühlen, Ohnmachts- und Schwächeanfällen in eine Klinik eingewiesen worden. Wir dachten zunächst, das käme von seinem Ohr, auf dem er seit Jahren einen massiven Tinnitus hatte und überdies taub war. Gehör und Gleichgewicht hängen ja zusammen. Es zeigte sich aber rasch, dass sein Schwindel psychogen war und mit Stress und Ãberforderungsgefühlen zusammenhing, die sehr schnell ausgelöst werden konnten. AuÃerdem diagnostizierte man noch eine saftige Depression. Mein Vater leugnete das natürlich, bis es ihm bewiesen wurde: Der Arzt forderte ihn auf, ein kompliziertes Formular auszufüllen, machte noch ein wenig Zeitdruck â mein Vater kippte um wie auf Befehl. Eine Weile sträubte er sich dagegen, »zu den Bekloppten zu gehören«, wie er sich ausdrückte. Für einen Mann seiner Generation war psychische Krankheit vermutlich mit Visionen altmodischer Irrenanstalten verbunden. Er verweigerte die Ergotherapie; »Körbe flechte ich nicht«, sagte er und, halb verwundert, halb voller Abscheu: »Stell dir vor, da ist ein Manager von Siemens, der hatte fünfzig Leute unter sich, und jetzt bastelt der Kistchen aus Wäscheklammern.« Er bewahrte sich seinen Reststolz, indem er sich stattdessen an diesen Terminen seiner Briefmarkensammlung widmete, dann ging er auf Kur in eine psychosomatische Klinik und machte eine Psychotherapie. Ich habe damals einiges über ihn erfahren, was er so nebenbei erzählte, weil es in den Sitzungen bearbeitet wurde. Die Lieblosigkeiten seiner Kindheit, diese Nachkriegs-Dorfkindheit mit ihren ganz normalen Grausamkeiten und ihren besonderen Sadismen, würden ein eigenes Buch füllen; und vielleicht schreibe ich diese Geschichte auch wirklich einmal; es müsste festgehalten werden, was ihm und so vielen seiner Generation angetan wurde.
Für mich war damals wichtig, dass wir, mein Vater und ich, einen ersten Schritt aus unserer Sprachlosigkeit heraus taten. Unser Verhältnis war nie sehr innig gewesen. Er liebte mich und war stolz auf mich, sicher, das wusste ich von meiner Mutter, aber eben nur von ihr, zu der ich immer eine enge Beziehung hatte. Erlebt habe ich die Anerkennung und die Liebe eigentlich nicht. Erziehung war Frauensache; der Vater kam in meinem Kinderleben kaum vor. In Erinnerung geblieben ist mir vor allem eine Reihe von Auseinandersetzungen, die im Grunde marginal waren, aber verbissen geführt wurden. Das war die Ebene, auf der wir uns hauptsächlich begegnet und über die wir vor allem nie hinausgekommen waren. Mein Vater war jemand, der mich schnell auf die Palme brachte, mit dem ich mich leicht stritt und mit dem ich, je älter ich wurde, immer weniger Gesprächsthemen fand. Er war mehr der Mann meiner Mutter für mich als irgendetwas anderes und spielte eigentlich keine groÃe Rolle, dachte ich.
Das änderte sich mit seiner Erkrankung und hat sich in den Jahren darauf zum Glück noch verstärkt. Wir können heute miteinander reden, ich fühle mich ihm nah, und er sich mir hoffentlich auch. Es gibt eine Passage in meinem Tagebuch aus der Zeit der Trennung von meinem Mann, die gut fünf Jahre später erfolgen sollte, in der ich festhalte, dass ich jetzt zwar alleine bin, aber es doch einen Mann meines Lebens gibt und dass das mein Vater ist. Und wie froh ich darüber bin, dass wir das haben dürfen.
Bis dorthin war es allerdings ein langer Weg. Ich weià noch, wie ich ihn in der Klinik besuchte. Er saà da, starrte in eine Ecke und schien gar nicht froh, dass jemand gekommen war. Es gab nichts zu besprechen, er wollte nicht reden, mir fiel ums Verrecken nichts ein, was ich hätte erzählen oder
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