Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
schulischen Problemen befrachtet ist, die ein liebendes Elternhaus auffangen kann. Mit anderen Worten: ein Traum.
Natürlich tue ich mit diesen leichtfertigen Sätzen allen Eltern unrecht, die mit ihren mutistischen Kindern Sorgen genug haben; es tut mir leid. Mir fällt nur der Spalt auf, der zwischen unserer damaligen Realität und der heutigen klafft, in der es kein Erwachen und keine Erlösung mehr gibt. Rückblickend wäre ich nun einmal froh, wenn wir keine gröÃeren Probleme gehabt hätten als einen netten kleinen Mutismus.
Wie tief wir schon damals im Wahnsinn der Situation mit unserem Kind steckten, das wir so detailliert beschreiben, es aber nicht als das sehen konnten oder wollten, was es war, auch das wird mir beim Lesen des »Manifests« klar.
Obwohl wir noch Angst haben, etwas zu pathologisieren, was vielleicht nur eine Charaktereigenheit ist, eine, die uns überfordert und die wir darum umso lieber in den Verantwortungsbereich der Mediziner abschieben, kommen wir doch nicht mehr umhin, uns einzugestehen, dass wir uns anhaltende Sorgen um unseren Sohn machen. Dass wir ratlos sind. Dass wir uns nicht mehr trauen zu sagen, das passt schon alles. Und auch nicht mehr recht glauben, es wird schon von selber werden. Wir würden es zumindest gerne durch einen Fachmann abgeklärt haben. Und Hilfe finden, um Simon rauszuhelfen aus dem, was ihn da umsponnen hält.
Ich hielt minutiös Situationen fest, die jeder Normalität entbehrten, und wollte sie doch nur als »Charaktereigenschaft, die uns überfordert« eingestuft wissen. Der verzweifelte Griff nach dem Strohhalm. Der Sinn für eine objektive Einordnung dessen, was in unserer Familie passierte, war uns tatsächlich völlig abhandengekommen.
Das änderte sich nach dem Gespräch mit der Ãrztin. Danach kamen wir unter Aufsicht, mein Sohn und ich. Wir beide erhielten Termine bei Psychiatern, wurden untersucht, angehört, abgehört, beobachtet, bekamen ein EEG abgenommen und Rezepte ausgehändigt. Es schien aufwärts zu gehen, obwohl es mit jeder Diagnose, die dazukam, im Grunde ja abwärts ging: Depression, Angststörung, Entwicklungsverzögerung, offizielles Nichtnormalsein. Aber egal, waren wir eben von nun an ein pharmakologisch gestütztes, leicht vom Schicksal gestreiftes Reihenhausidyll; jedenfalls ging es irgendwohin . Es gab Arbeit, etwas, das wir tun konnten.
In meinem Fall war der Psychiater zum Glück ein kluger und zurückhaltender Mann, der verstand, was ich zu ihm sagte â eine Erfahrung, die mir bei meinem ersten Therapeuten versagt bleiben sollte â, der mich, wie ich glaube, mit einer gewissen Sympathie sah und mir nicht das Gefühl gab, entmündigt zu werden.
In seinem Wartezimmer saÃen bis auf wenige Ausnahmen viele ganz normal aussehende Menschen, auch wenn ihre Gesichter abgespannt, müde und verschlossen wirkten. Aber die fand man auch in jedem Stadtbus. Ich blickte mich argwöhnisch um und stellte fest, dass ich mit meinem Gang zum Psychiater offenbar nicht, wie befürchtet, beim »Ausschuss« angekommen war. Mit Belastung und Ãberforderung konnte ich wahrlich dienen, mit Müdigkeit auch. Simon weckte uns jede Nacht, noch immer in dem Drei-Stunden-Stillrhythmus, mit dem er das Leben begonnen hatte. Meinen Alltag erlebte ich wie hinter Panzerglas, nichts fühlte sich mehr gut an. Bei jeder Gelegenheit kamen mir selbst vor wildfremden Menschen die Tränen. An Fassade war ich nicht mehr interessiert.
Das letzte Weihnachten, das war jetzt einen Monat her, hatte ich auf dem Sofa verbracht, mit beiden Händen in die Rückenlehne gekrallt und gegen das verdammte Gefühl ankämpfend, dass ich abrutschen und versinken würde, wenn ich mich nicht ganz, ganz festhielte. Ich hatte das Bedürfnis, mit den Händen in meinen Eingeweiden wühlen zu wollen und konnte zum ersten Mal Menschen verstehen, die sich selbst verletzen.
Verzweifelt hatte ich meinem Mann und dem Ãltesten beim Baumschmücken zugesehen, ohne die geringste Freude, im Gegenteil, in mir war eine grundlose Panik aufgestiegen. Jeder kleine Fluch, wenn das Bändchen des Strohsterns nicht über die Nadeln gehen wollte, und jeder Fehlgriff, den sie taten, quälten mich körperlich. Bei jedem Schmuckstück, das sie an den Baum hängten, dachte ich: O Gott, das muss ich nach den Feiertagen wieder in die Kiste zurückräumen. Am liebsten
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